»Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie«: eine fortlaufende Online-Anthologie, zusammengestellt von Jan-Eike Hornauer
Judith-Katja Raab
Börsenspaziergang
Von Regeln befreit sind Börsen und Banken
durch der Herrscher holden belebenden Blick,
die Wirtschaft brummt im Wachstumskick;
manch alter Hartzer in seiner Schwäche
zog sich in öde Trauer zurück.
Von dort her sendet er, flehend, nur
ohnmächtige Schauer von schrundigem Darben
in Tafeln über die staatliche Schur.
Aber die Presse, sie zeigt nur die Farben
in Blättern, die niemals zornig erbeben,
alles will sie mit Aufschwung beleben;
doch an Wahrheit fehlt’s im Revier,
sie nimmt getürkte Sternchen dafür.
© Judith-Katja Raab, Veitshöchheim
+ Das OriginalJohann Wolfgang von Goethe
Osterspaziergang
Vom Eise befreit sind Strom und Bäche
Durch des Frühlings holden, belebenden Blick,
Im Tale grünet Hoffnungsglück;
Der alte Winter, in seiner Schwäche,
Zog sich in rauhe Berge zurück.
Von dort her sendet er, fliehend, nur
Ohnmächtige Schauer körnigen Eises
In Streifen über die grünende Flur.
Aber die Sonne duldet kein Weißes,
Überall regt sich Bildung und Streben,
Alles will sie mit Farben beleben;
Doch an Blumen fehlts im Revier,
Sie nimmt geputzte Menschen dafür.
Kehre dich um, von diesen Höhen
Nach der Stadt zurück zu sehen!
Aus dem hohlen finstern Tor
Dringt ein buntes Gewimmel hervor.
Jeder sonnt sich heute so gern.
Sie feiern die Auferstehung des Herrn,
Denn sie sind selber auferstanden:
Aus niedriger Häuser dumpfen Gemächern,
Aus Handwerks- und Gewerbesbanden,
Aus dem Druck von Giebeln und Dächern,
Aus der Straßen quetschender Enge,
Aus der Kirchen ehrwürdiger Nacht
Sind sie alle ans Licht gebracht.
Sieh nur, sieh! wie behend sich die Menge
Durch die Gärten und Felder zerschlägt,
Wie der Fluß in Breit und Länge
So manchen lustigen Nachen bewegt,
Und, bis zum Sinken überladen,
Entfernt sich dieser letzte Kahn.
Selbst von des Berges fernen Pfaden
Blinken uns farbige Kleider an.
Ich höre schon des Dorfs Getümmel,
Hier ist des Volkes wahrer Himmel,
Zufrieden jauchzet groß und klein:
Hier bin ich Mensch, hier darf ichs sein!
(Faust in: Faust I, Vor dem Tor)
+ Zur Autorin
Judith-Katja Raab wurde 1954 in Paderborn geboren und lebt heute in Veitshöchheim b. Würzburg. Nach zwei Semestern Kunststudium an der SHFBK in Braunschweig Studium der Rechtswissenschaften, Soziologie und Politik in Hannover. Gelegenheitsjobs in wissenschaftlichen Bibliotheken, freie Journalistin bei der Neuen Westfälischen und dem Westfälischen Volksblatt in Paderborn, später Volontariat beim Main-Echo in Aschaffenburg, wo sie dann rund ein Dutzend Jahre als Feuilleton-Redakteurin tätig war. Heute ist sie ausschließlich literarisch unterwegs. Vier Romane, zuletzt »Die graue Zeit der kalten Sophie« und »Wir Zombies vom Fimmelberg«, sowie zwei Lyrikbände, hier zuletzt »Fluchfelder, Fluchtpunkte und die Fliehkraft der Worte« (alle Titel: Monsenstein & Vannerdat, E-Book). Zudem Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften und Anthologien, u. a. Dulzinea und DAS GEDICHT.
»Gedichte mit Tradition« im Archiv
Zu dieser Reihe: »Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie« ist eine Online-Sammlung erstveröffentlichter zeitgenössischer Poeme, die zentral auf ein bedeutendes Werk referieren, ob nun ernsthaft oder humoristisch, sich verbeugend oder kritisch. Jeden Freitag erscheint eine neue Folge der von Jan-Eike Hornauer herausgegebenen Open-End-Anthologie. Alle bereits geposteten Folgen finden Sie hier.