Humor in der Lyrik – Folge 30: H.C. Artmann (1921 – 2000): »Med ana schwoaznn dintn«

Die Behauptung ›Lyriker haben keinen Humor‹ gehört zu den unausrottbaren Missverständnissen. Doch gerade in dieser literarischen Gattung blüht Humor in allen Facetten. Alfons Schweiggert stellt an jedem 25. des Monats lyrischen Humor und humorvolle Lyriker in seiner Rubrik »Humor in der Lyrik« vor. Als Kolumnist von DAS GEDICHT blog will er damit Anregungen geben, Humor in der Lyrik zu entdecken und humorvolle Vertreter dieser Gattung (wieder) zu lesen.

»… meine anliegen [sind] sprunghaft, meine sehnsüchte wie die windrose, im handumdrehen zufrieden, im handumrehen verdrossen, freund der fröhlichkeit, im grunde traurig […] … im kriege zerschossen, im frieden zerhaut … ein brechmittel der linken, ein juckpulver der rechten, […] sanft wie Puccini, locker wie Doctor Ward«, so beschrieb sich der Dichter H.C. Artmanns in einem selbstgefertigten Steckbrief. Wegen der notorischen Kleinschreibung aller seine Texte nannte man ihn den »Kleinschreibungs-Apostel«.

Schon früh wollte der Wiener Schustersohn nicht bei den Leisten bleiben. Aufgewachsen im Arbeiterviertel Breitensee, faszinierten ihn die Zaubersprüche seiner Großmutter: »Ich kann alle Zaubersprüche meiner Großmutter«, versicherte er. »Das ist sehr wichtig. Zaubersprüche muß man können, die ganze Lyrik geht darin auf.« Vielleicht dachte er auch an sie, als er die Verse schrieb: »ganz versteckt in wildem wein / haust des wieners mütterlein, / schneeweiß weht ihr blondes haar, / weil sie nie beim zahnarzt war. […].«

Nach dem Hauptschulabschluss, einem dreijährigen Büropraktikum und einer Schuhmacherlehre ließ sich seine Sprachlust nicht mehr unterdrücken. Doch die Sprache blieb ihm weg, als er 1940 zur Wehrmacht eingezogen wurde und im Zweiten Weltkrieg an die Ostfront musste, wo er verwundet wurde. Ein Jahr später steckte man ihn wegen Fahnenflucht in eine Strafkompanie. 1945 geriet er in amerikanische Kriegsgefangenschaft, wo er sich als Dolmetscher betätigte und seine ersten Texte schrieb, so etwa über sein Herz: »mein herz ist das laechelnde kleid eines nie erratenen gedankens / mein herz ist die stumme frage eines bogens aus elfenbein […].«

Als selbstironischer Dandy lebte er nun in den Tag hinein, betätigte sich als Postbote und hielt sich mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser, bis er schließlich das Erwerbsleben aufgab und elf Jahre von Arbeitslosenunterstützung lebte nach dem Motto: »Wer arbeitet ist selber schuld.« Oft schlief er bis tief in den Tag hinein und pflegte erst mit Einbruch der Nacht lebendig zu werden. Unterstützt von etlichen Vierterln Wein entstanden dann seltsam eindringliche Verszeilen wie: »ei, da sauft man,/ sauft man, sauft man,/ doch was hat man schon davon?/ man versäumet lieb/ und trambahn – / undank ist/ der welten lohn!«

Die Nächte verbrachte er mit Szenekünstlern in der Kneipe, wo alle vom großen Durchbruch träumten und sich Gedichte vorlasen. Im Mittelpunkt stand dabei oft genug er, der drahtige Wiener mit den stechend blauen Augen, für den die Worte eine »bestimmte magnetische masse« waren, »die gegenseitig nach regeln anziehend wirkt […] … Ich bin der kuppler und zuhälter von worten und biete das bett«, davon war er überzeugt.

H.C. Artmann,  Zeichnung: Alfons Schweiggert
H.C. Artmann,
Zeichnung: Alfons Schweiggert
1952 wurde Artmann mit Gerhard Rühm und Konrad Bayer zum Mitbegründer der legendären »Wiener Gruppe«. Doch der große Durchbruch gelang ihm erst 1958 mit dem schwarzhumorigen Gedichtband »Med ana schwoazzn dintn« (»Mit einer schwarzen Tinte«). Damit gelangte er zu Bestseller-Ruhm und wurde über Nacht berühmt. Die mit »brutaler Dialekt-Orthographie« verfassten Verse klingen so: »aum eaxtn is s ma r one dia /um fire in da frua / wann d easchtn aumschln schrein …« [»am ärgsten ist es mir ohne dir / um vier in der früh/ wenn die ersten amseln schrein …«]

Die Stadt Wien spendierte dem gelobten Mundart-Poeten nun eine komfortable Wohnung in einem Gemeindebau, an deren Türschild sich Artmann als »Churfürstl. Sylbenstecher« bezeichnete. Zwei Jahre hauste er dort, bevor er, mit der Miete im Verzug, vor dem Gerichtsvollzieher wieder nach Breitensee entfloh. Auf ausgedehnten Reisen durch ganz Europa lernte er von 1961–65 Schweden kennen, danach bis 1969 Berlin, immer auf der Suche nach neuen Erlebnissen und neuen Frauen: »ich bin ein weiberjäger, durchweibere die welt, ob jungfrau, gattin, witwe, ich lieb, was mir verfällt!«

Wie seine gescheiterten Ehen und seine Kinderschar bezeugen, verfielen ihm viele Frauen. Und er verfiel der Literatur, beherrschte den lyrischen Ton ebenso wie das Erzählen von kuriosen Geschichten, liebte das Volkslied ebenso wie den heiteren Kinderreim: »auf dem berge ararat / wohnt der schneider drakulat, / seine frau, die nosfretete,/ saß am särgelein und nähte,/ fiel herab, fiel herab,/ und der linke zahn brach ab. […]«

Als Beherrscher von zwei Dutzend Sprachen betätigte er sich auch als genialischer Übersetzer, übertrug aus dem Schwedischen die »Lappländische Reise« des Naturforschers Carl von Linné, aus dem Englischen Nonsense-Verse von Edward Lear und aus dem Irischen religiöse Dichtungen der Kelten. Übersetzungen aus dem Dänischen, Französischen, Niederländischen und Spanischen folgten.

Sein umfangreiches literarisches Werk – vom Drama über Gedichte bis hin zu barocken Schwänken und mittelalterlichen Balladen – trug ihm 23 Ehrungen und Preise ein. So erhielt er 1974 den Großen Österreichischen Staatspreis, 1997 den Georg-Büchner-Preis und man verlieh ihm, passend zu seinem Vornamen-Kürzel, sogar einen Dr. h. c. und dazu den Nestroy-Ring, den Ehrendoktor der Universität Salzburg und die Mitgliedschaft in der Akademie der Künste in Berlin.

Seine letzten Lebensjahre verbrachte Artmann mit seiner Frau, der Schriftstellerin Rosa Pock, in Wien. Dort starb er am 4. Dezember 2000 an Herzversagen. Sein Ehrengrab liegt auf dem Wiener Zentralfriedhof. Bis heute ist sich mancher aber immer noch nicht so ganz sicher, ob H.C. Artmann wirklich im Wiener Vorort Breitensee geboren wurde oder nicht doch, wie er selbst stets beteuerte, »1621 auf einem Baum nahe dem Weiler St. Achatz am Wald als Kind einer Wildente und eines Kuckucks«.

In Wien-Donaustadt zieht sich über vier Stockwerke eines Wohnkomplexes in schwarzer Schrift ein Zitat aus Artmanns berühmtem Band »med ana schwoazn dintn«:
»noch ana sindflud sama r öle medaranaund säumt de hextn beag dasoffm…« [»nach einer Sintflut sind wir alle miteinander samt den höchsten Bergen ersoffen«].

 

Alfons Schweiggert. Foto: Gerd Pfeiffer, München
Alfons Schweiggert. Foto: Gerd Pfeiffer, München

»Humor in der Lyrik« wird Ihnen von Alfons Schweiggert präsentiert. Der Münchner Schriftsteller veröffentlichte neben Erzählungen und seinem Roman »Das Buch« mehrere Lyrikbände, Biographien und Sachbücher sowie Kinder- und Jugendbücher. Nach mehrjähriger Lehrtätigkeit als Institutsrektor am Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung in München ist er seit 2010 freischaffender Autor. Schweiggert ist Präsidiumsmitglied der Schriftstellervereinigung Turmschreiber und Vorstand der »Karl Valentin-Gesellschaft«.
Alle bereits erschienenen Folgen von »Humor in der Lyrik« finden Sie hier.

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