Humor in der Lyrik – Folge 35: Alfred Polgar (1873 – 1955): »Kleiner, aber tüchtiger Makkabäer im Land der Philister«

Die Behauptung ›Lyriker haben keinen Humor‹ gehört zu den unausrottbaren Missverständnissen. Doch gerade in dieser literarischen Gattung blüht Humor in allen Facetten. Alfons Schweiggert stellt an jedem 25. des Monats lyrischen Humor und humorvolle Lyriker in seiner Rubrik »Humor in der Lyrik« vor. Als Kolumnist von DAS GEDICHT blog will er damit Anregungen geben, Humor in der Lyrik zu entdecken und humorvolle Vertreter dieser Gattung (wieder) zu lesen.

Alfred Polgar, geboren in Wien als jüngstes von drei Kindern musikalischer Eltern, die eine Klavierschule leiten, betätigt sich nach dem Besuch des Gymnasiums und der Handelsschule als Gerichts- und Parlamentsreporter bei der »Wiener Allgemeinen Zeitung« und erlebt hier die ganze Bandbreite skurrilen Humors. Dies befähigt ihn 1905 zur Mitarbeit als freier Autor fürs Kabarett. Über alles liebt er die Kaffeehaus-Atmosphäre und wünscht sich ein »Café Central«, das nach seiner Vorstellung »unterm wienerischen Breitengrad am Meridian der Einsamkeit« liegt. »Seine Bewohner sind größtenteils Leute, deren Menschenfeindschaft so heftig ist wie ihr Verlangen nach Menschen, die allein sein wollen, aber Gesellschaft brauchen. Es sind unklare Naturen, ziemlich verloren ohne die Sicherheiten, die das Gefühl gibt, Teilchen eines Ganzen (dessen Ton und Farbe sie mitbestimmen) zu sein.«

In den 1920er Jahren lebt Polgar überwiegend in Berlin als Feuilletonist, Theaterkritiker und Schriftsteller. Als diskret eleganter Stilist sieht er die schöne alte Welt mit einem achselzuckenden Lächeln. Die zwischen den Lippen klebende Zigarette wird ebenso zu seinem Markenzeichen wie die geblümte Fliege. Durch seine melancholisch hängenden Augenlider zwängt sich ein durchdringender Blick und bohrt sich in die vielen Aberwitzigkeiten um ihn herum, und es bereitet ihm Genuss, von der sichtbaren Oberfläche in die abgründigen Untiefen hinab zu tauchen.

Alfred Polgar. Skizze von Alfons Schweiggert
Alfred Polgar. Skizze von Alfons Schweiggert

Polgar, der sich gern zwei Jahre jünger macht, erklärt die Welt mit spielerischer Leichtigkeit. Als Journalist schreibt er ein Leben lang für Zeitungen und Zeitschriften, so auch für das »Berliner Tageblatt«, die »Schaubühne« oder die »Weltbühne«. Er verfasst über zwei Dutzend Bücher mit oft knappen Titeln wie »Kleine Zeit«, »Ja und Nein!«, »An den Rand geschrieben«, »Schwarz auf Weiß« oder »Anderseits«. Was er schreibt, ist leise und leicht, und stets trifft er genau ins Ziel. Seine Texte sprühen vor Witz und Pointen, ohne je aufzutrumpfen, und in seiner Sprache verbindet sich Brillanz und Feingefühl. Er ist ein Meister des Weglassens und hasst Aufgeblasenheit in Wort und Sein. In seinen Texten spielen oft kleine Leute die Hauptrolle. Sein Motto: »Ich will lieber die Büste meines Briefträgers auf den Schreibtisch stellen, als die des großen Napoleon.«

Mit vielen seiner Aphorismen gehört er zur Gruppe der Lyriker, zu der mit ihren epigrammatisch-aphoristischen Kurzgedichten auch Bert Brecht, Erich Fried und andere zählen. Polgar reichen ein paar Zeilen, um das ihm Wesentliche auszudrücken.
 

Es kommt darauf an,
wie einer netto lebt,
nicht brutto.

Es hat sich bewährt,
an das Gute
im Menschen zu glauben,
aber sich
auf das Schlechte zu verlassen.
 

Auch in seinen Theaterkritiken bringt er das Wesentliche auf den Punkt. Er verabscheut die Nazis ebenso wie die Kommunisten. Vor dem NS-Regime flieht er Anfang März 1933 nach Prag. Am 10. Mai werden seine Bücher verbrannt. Weiter geht es nach Wien, wo im März 1938 die Wehrmacht einmarschiert. Polgar, der sich mit seiner Frau gerade in Zürich aufhält, dort aber keine Arbeitserlaubnis erhält, flieht nach Paris und beim Einmarsch der Deutschen im Juni 1940 über die Pyrenäen nach Spanien. Von dort emigriert er in die USA, arbeitet in Hollywood als Drehbuchautor, übersetzt amerikanische Bühnenstücke und verfasst Artikel für diverse Exilzeitungen. 1949 kehrt er nach Europa zurück, lässt sich in Zürich nieder und schreibt wieder für deutschsprachige Zeitungen. Wie ein Lyriker kann er hundert Zeilen zu zehn verdichten und das aphoristische Ergebnis dem Leser mit vollendeter Beiläufigkeit servieren.
 

Wenn dich alles verlassen hat,
kommt das Alleinsein.
Wenn du alles verlassen hast,
kommt die Einsamkeit.

Eine mit Schlagworten
geohrfeigte Zeit
produziert
eine geschwollene Literatur.
 

Der Schriftsteller Joseph Roth schätzt Polgars Schreibstil so sehr, dass er sich gelegentlich mit den Worten vorstellt: »Ich bin ein Schüler von Alfred Polgar.« Polgar ist dieses Lob peinlich. Robert Musil nennt ihn einen »Filigranisten«, dem die geschliffene Beschreibung Voraussetzung ist, um einer Wahrheit auf die Spur zu kommen und schwere Dinge leicht zu sagen. »Warum und zu welchem Ende studieren wir Alfred Polgar?«, fragt Kurt Tucholsky 1925 die Leser der Weltbühne. Seine Antwort: Weil Polgar »aufs Augenhärchen genau sagen kann, was er sagen will.«
 

Die Presse
hat auch die Aufgabe,
das Gras zu mähen,
das über etwas zu wachsen droht.
 

Politiker
Schade, dass die meisten
sofort aufhören zu rudern,
wenn sie am Ruder sind.
 

Wien
Ich muss über diese Stadt
ein vernichtendes Urteil abgeben:
Wien bleibt Wien.
 

»Seine Sätze sind so glatt und gefällig«, schwärmt Franz Kafka, »dass man die Lektüre von Polgar als eine Art unverbindlicher gesellschaftlicher Unterhaltung hinnimmt und gar nicht merkt, dass man eigentlich beeinflusst und erzogen wird. Unter dem Glacehandschuh der Form verbirgt sich ein fester, unerschrockener Wille als Inhalt. Polgar ist ein kleiner, aber tüchtiger Makkabäer im Land der Philister.« Über dieses Lob war Polgar nach Friedrich Torbergs Aussage »stolz wie ein Gymnasiast«.

 

Alfons Schweiggert. Foto: Gerd Pfeiffer, München
Alfons Schweiggert. Foto: Gerd Pfeiffer, München

»Humor in der Lyrik« wird Ihnen von Alfons Schweiggert präsentiert. Der Münchner Schriftsteller veröffentlichte neben Erzählungen und seinem Roman »Das Buch« mehrere Lyrikbände, Biographien und Sachbücher sowie Kinder- und Jugendbücher. Nach mehrjähriger Lehrtätigkeit als Institutsrektor am Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung in München ist er seit 2010 freischaffender Autor. Schweiggert ist Präsidiumsmitglied der Schriftstellervereinigung Turmschreiber und Vorstand der »Karl Valentin-Gesellschaft«.
Alle bereits erschienenen Folgen von »Humor in der Lyrik« finden Sie hier.

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