Humor in der Lyrik – Folge 52: Martina Kieninger (* 1966) – Pionierin der Netzwerkpoesie

Die Behauptung ›Lyriker haben keinen Humor‹ gehört zu den unausrottbaren Missverständnissen. Doch gerade in dieser literarischen Gattung blüht Humor in allen Facetten. Alfons Schweiggert stellt an jedem 25. des Monats lyrischen Humor und humorvolle Lyriker in seiner Rubrik »Humor in der Lyrik« vor. Als Kolumnist von DAS GEDICHT blog will er damit Anregungen geben, Humor in der Lyrik zu entdecken und humorvolle Vertreter dieser Gattung (wieder) zu lesen.

 

Martina Kieninger gehört neben Susanne Berkenheger, Olaf Koch, Sven Stillich, Reinhard Döhl, Johannes Auer, Dirk Schröder, Claudia Klinger und Norman Ohler zu den Netzwerkpionieren, die das Internet als poetischen Raum nutzen.
„Zu mir selbst gibt es nicht viel zu erzählen“, sagte sie mir. „Ich habe in Stuttgart Chemie studiert, in Heidelberg promoviert und arbeite als Dozentin für Computerchemie an der Universidad de la República in der uruguayischen Hauptstadt Montevido – eigentlich sind dies nicht die klassischen Voraussetzungen für den Einstieg in die Literatur. Obwohl“, so betont sie, „in der Stuttgarter Schreibwerkstatt des Studium Generale ein Student für Raum- und Luftfahrttechnik Mitte der 80er eine Kurzgeschichte mit dem Namen `Die Haarteppich-knüpfer´ vorstellte, die er später zu einem vielbeachteten Roman ausbaute – der Student hieß Andreas Eschbach. Aber das war vor meiner Zeit und ich schreibe ungern von Hand, Schreibmaschinen sind mir ein Gräuel. Interessant wurde das Schreiben für mich erst mit dem Aufkommen des Internet – und der Idee der Digitalen Literatur – Netzliteratur.“
Das war in den Neunzigerjahren. Da begann Martina Kieninger mit der Veröffentlichung literarischer Texte im Internet. Im Jahr 2000 nahm sie am Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt teil.

 

Schriftstellerin Martina Kieninger
Schriftstellerin Martina Kieninger (Foto: privat / mit freundlicher Genehmigung der Autorin)

 

Im Jahr 1996 schrieb „Die Zeit/IBM“ einen „internet-Literaturpreis“ aus. „Der Begriff `internet-Literatur´ war damals vollkommen unbesetzt“, erinnert sich Martina Kieninger, „und die Themenwahl freigestellt, nur zwei (selbst für das Jahr 1996 restriktive) Rahmenbedingungen für die Einreichungen standen fest:
1. Der Gesamtumfang der Beiträge durfte 20 Kilobyte nicht überschreiten,
2. `links´ mussten beitragsintern gesetzt sein – die für Texte im Internet typischen Verweise auf außerhalb liegende Seiten im WWW waren also nicht erlaubt.
Diese Ausschreibungsbedingungen muteten schon damals, in den Jahren kurz vor der Dotcom-Blase, geradezu absurd an angesichts der übermittelten Datenmengen und angesichts der Wichtigkeit des Prinzips Vernetzung für das Internet: Netzliteratur ohne Vernetzung ist ein Widerspruch in sich.“
Martina Kieningers Beitrag „Der Schrank/Die Schranke“ zum Wettbewerb 1996 kann demnach, so versichert die Autorin, „als `Protest´ gegen die Ausschreibungsbedingungen gelesen werden: Er enthält exakt 20 000 Zeichen, Illustrationen inclusive, die als `Ascii-Art´ im Stil der Siebziger Jahre ausgeführt sind, `links´ führen ad absurdum, die Gestaltung ist eindeutig `retro´. Dennoch wurde diesem Beitrag der erste Preis zugesprochen und in Folge bahnte sich eine Zusammenarbeit zwischen mir in Uruguay, sowie Johannes Auer und Reinhard Döhl in Stuttgart an.“

 

Ausschnitt aus M. Kieningers Arbeit „Der Schrank/Die Schranke“
Ausschnitt aus M. Kieningers Arbeit „Der Schrank/Die Schranke“ (mit freundlicher Genehmigung der Autorin)

 

Eine Rezension des Museums für Literatur am Oberrhein beschreibt das Projekt „Der Schrank Die Schranke“ so: „Im Mittelpunkt: ein absurder Dialog von zwei `Daemons´, zwei Computerprogrammen in einem Wirtshaus. Hinzu kommen ein sprechender Schrank und ein sterbender Revoluzzer. Die Bühne für den Dialog der Akteure sind gezeichnet mit ASCII-Zeichen, Reminiszenzen an die erste Computerkunst vor der Entwicklung grafischer Oberflächen. Der Buchstabe – als sprachliches Zeichen hier bedeutungslos – wird stattdessen zum grafischen Element. Die absurde Szene endet mit einer Schlägerei, dargestellt durch die strichartigen ASCII-Zeichnungen. Die Wirtshaus-Szene steht im Mittelpunkt dieser einfach strukturierten, linear erzählten Hypertext-Arbeit. `Der Schrank. Die Schranke.´ spielt davon ausgehend mit irreführenden Links, Gedichten mit rekombinierten Buchstaben- oder Wortfolgen, und der mimetischen Gestaltung von Linkverbindungen (z.B. führt der Link `Leere´ in eine leere schwarze Seite). Diese stehen selten in Zusammenhang mit dem Haupttext, verwenden aber Elemente aus dem Computerjargon oder Programmiersprachen, verwerten also durch das Medium anfallendes sprachliches Material in literarischer Form.“

Auf den Eintrag in der Hyperfiction-Liste – „Das Stück besteht aus einer Hauptdatei, die nur ganz wenige, weit verteilte Links besitzt. Die Bühnenbilder werden in dieser Hauptdatei mit Ascii-Satz als Illustrationen eingefügt. Die wenigen Nebendateien sind teils Gag (Der Link des Wortes `Leere´ führt zu einer schwarzen Seite), teils Wortspiel, teils gelungene Parodie. Inhaltlich etwas dünn“ – protestierte die Autorin: „Da muss ich energisch widersprechen: Mein Stück hat keinen DÜNNEN INHALT SONDERN GAR KEINEN!!!!!! Da besteh´ ich drauf.“

1998 entstanden verschiedene Mitschreibeprojekte wie „TanGo“, zum Teil begleitet von Mail-Art (Postkarten, die zwischen Stuttgart und Montevideo verschickt wurden). Irgendwann (zeitlich fällt das mit dem Tod Reinhard Döhls zusammen) löste sich die „Internet-Literatur-Szene“ der Neunziger- und Nuller-Jahre auf und existiert heute nicht mehr (allerdings sind die Arbeiten aus jener Zeit auf den Seiten des digitalen Literaturarchivs Marbach verfügbar.
„German Net Literature in the Exile of Invisibility“, nennt Patricia Tomaszek diese Entwicklung im Tagungsband der „Officina di Letteratura Elettronica“, 2012, und führt folgende Gründe an:
„An emerging field needs time to develop. In Germany, no time for progress was given to emerge in public. Additionally, there was a fear that all new developments from the evolving technologies and the internet would endanger the future of the book.”

„Auch ich“, so Martina Kieninger, „wandte mich von der Netzliteratur ab und der `Papierliteratur´ zu. Auf Anfrage eines Verlagslektors, der unbedingt einen Roman haben wollte (also bloß keine `experimentelle Literatur´) entstand die `Leidensblume von Nattersheim´ (die dem Mann wiederum zu `experimentell´ war). Immerhin konnte ich 2000 beim Ingeborg Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt aus dem Roman lesen, der dann 2005 im Münchner Verlag Liebeskind veröffentlicht wurde. Mit `desoxyriboli´ [Warmbronn 2002] allerdings führte ich meine `experimentellen Arbeiten´ weiter [ein Ausschnitt aus desoxyriboli ist beim Verlag Ulrich Keicher erschienen].“

„Zurzeit“, so berichtet Martina Kieninger, „steht ein `chemisch/alchemistisches´ Lyrikprojekt auf meiner ToDo-Liste: Arbeitstitel `Aldehyd Alkahest´– in mancher Hinsicht eine Fortführung von `Sängerin an der Lampe´ [2006 ebenfalls Verlag Ulrich Keicher erschienen].“
Und dann steht auch noch das „Elternverwirrbuch“ (Infos dazu im Netz: in Farbe oder SW) auf der Agenda der Ringelnatz-Verehrerin, das „gewissermaßen als Ergänzung zu `Aldehyd Alkahest´ zu sehen ist.“
Mit freundlicher Genehmigung der Autorin daraus die beiden folgenden Gedichte (der jeweils aktuelle Stand der Dinge, die Arbeit am Elternverwirrbuch als auch die Arbeit an „Chemie/Alchemie“ wird sich ab Aschermittwoch auf der Autorenseite von hor.de verfolgen lassen).

 

Alte Kralle / Anspruchsvoller Nachwuchs

Maule maule quappenkaule
artenvielfalt is für faule
artenvielfalt is für socken
zillen in den socken hocken
riechen schlecht nach buttersäure
reimt sich schlecht auf konstrukteure
butterblumensaure faule
wiesenstille riechbazille
ha, so evolutioniert die welt

aus den wiesen werden schafe
aus den schafen werden socken
zillen nach der buttersäure

kille killer kitzelgrille

 

Herr Fall. Frau Falle.

Leute, ich glaub, Ihr seid mein Fall,
hack n slash points bitcoins cash für chemie und kali, bargeldlos
nitrate aus chile bali oder bari, alles egal, ich reim dirn Passwort auf den Fall
fällt die Falle, fallen alle
überall im freien Fall,
das Radio spielt Marsch, fall in den Marsch ein
die Falle macht EinFall in ZweiBein,
ein Radio spielt Ballzer für den Rosenball,
verfallen in die
Fallensofie.

Aus der Stempel Vielfalt fällt ein Stempel auf den Fall
Der Fehler fällt nicht auf, der Fall nimmt seinen Lauf,
der Daten Ab Fall fällt in Trab
vierzig Tüten Daten fälscht ein Fälscher und fällt auf
die Daten sind noch nass im fälschungssichren Pass
die Falle schnappt, Frau Fällscher wird geschnappt,
das Radio fällt ein, singt FallaDa am Rhein,
Herr Parsifall wird fahl
Herr Herr hat einen Durchfall in den Gral
Das Radio spielt Walzer für den Rosenfall

Herr Fall fällt durchs Ras
Ter in den Pass
Das Datum fehlt nass auf dem Stempel in dem Pass,
ein fälschungssichrer Parsifall fällt fehlerfrei in freiem Fall

Leute, ich glaub, Ihr seid mein Fall,
hack n slash besorg points bitcoins cash chemie, bargeldlos
bestell Alkali und reim
dir n Passwort auf Fallada am Rhein

fallada hackt payback das konto von Herrn Bein,
Der AbFall fällt durchs Rass-Ter in den Pass
Der Stempel auf dem Abfall ist noch nass
Das Radio singt Walzer für den Rosenfall
Frau Falle macht EinFall in Herrn Bein
Die Bässe fallen ein mit Fallada am Rhein

Frau Fälscher fälscht den Pass
Der Stempel ist noch nass
Auf Bestellung für mehr Knallgas singt Frau Falle einen
fälschungssichren Brennstoffbestellbass
Der Bass fällt nicht auf, der Fall nimmt seinen Lauf
Aus der Stempel Vielfalt fällt ein Stempel auf den Fall

Fallen wir nie oh so fie
wirwirwirnini nie vierzig tüten nie
nie nie vier oh oh oh Oh
tütenzig zig tüten nie
oh nie nie nie lensof
bass ass ass ihr seid
mamamamein

© Martina Kieninger

 

 

Alfons Schweiggert. Foto: Gerd Pfeiffer, München
Alfons Schweiggert. Foto: Gerd Pfeiffer, München

»Humor in der Lyrik« wird Ihnen von Alfons Schweiggert präsentiert. Der Münchner Schriftsteller veröffentlichte neben Erzählungen und seinem Roman »Das Buch« mehrere Lyrikbände, Biographien und Sachbücher sowie Kinder- und Jugendbücher. Nach mehrjähriger Lehrtätigkeit als Institutsrektor am Staatsinstitut für Schulqualität und Bildungsforschung in München ist er seit 2010 freischaffender Autor. Schweiggert ist Präsidiumsmitglied der Schriftstellervereinigung Turmschreiber und Vorstand der »Karl Valentin-Gesellschaft«.
Alle bereits erschienenen Folgen von »Humor in der Lyrik« finden Sie hier.

 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert