Tobias Burghardt flaniert jeweils am 5. eines Monats auf DAS GEDICHT blog durch die südlichen Gefilde der Weltpoesie. In der Rubrik »Im babylonischen Süden der Lyrik« werden Sprachgemarkungen überschritten und aktuelle Räume der poetischen Peripherien, die innovative Mittelpunkte bilden, vorgestellt.
Zwei runde Jahrestage erinnern in diesem Jahr 2025 an den argentinischen und lateinamerikanischen Dichter und Denker Roberto Juarroz: sein dreißigster Todestag am gerade vergangenen 31. März und sein hundertster Geburtstag am kommenden 5. Oktober. Zum Auftakt der »Hundertjahrfeier 2025« von Roberto Juarroz (1925 – 1995) erschien im Vorfeld der Leipziger Frühjahrsbuchmesse als Band 12 der Stuttgarter Juarroz-Werkausgabe die »Poesía vertical inédita – Unveröffentlichte vertikale Poesie« in einem zweisprachigen Titel mit seinem berühmten Brief an den New Yorker Dichter und Übersetzer ins Englische W. S. Merwin und äußerst seltenen Selbstaussagen sowie dem vollständigen Register aller Gedichte dieser bilingualen Werkausgabe.
Roberto Juarroz
Poesía vertical inédita (19)
Entre el camino del sí
y el camino del no
colocar un espejo
que no refleje ninguno de los lados.
El espejo se volverá camino,
llenándose de otras imágenes
o armando otros reflejos
para crear sus imágenes.
* * *
Roberto Juarroz
Unveröffentlichte vertikale Poesie (19)
Zwischen dem Ja-Weg
und dem Nein-Weg
einen Spiegel stellen,
der auf keiner der Seiten spiegelt.
Der Spiegel wird zum Weg
und füllt sich mit anderen Bildern
oder erzeugt andere Spiegelungen,
um seine Bilder zu erschaffen.
Übertragen von Juana und Tobias Burghardt
Der mexikanische Dichter und Essayist Octavio Paz nannte ihn eine »einzigartige Stimme des 20. Jahrhunderts«, seine Poesie bezeichnete er als »Geologie des Seins« und »Astronomie des Geistes«, während der andalusische Dichter Vicente Aleixandre die »vertikale Blickrichtung« von Roberto Juarroz so charakterisierte: »Poesie einer glühenden Transparenz«. Für den argentinischen Schriftsteller Julio Cortázar zerfällt »jede prosaische Sicht in Stücke angesichts dieser gesamten Aneignung des Daseins durch die Poesie«, seine Gedichte gehören für ihn »zum Höchsten und Tiefsten, das in diesen Jahren in der spanischen Sprache geschrieben wurde«. Das poetisches Werk von Roberto Juarroz erschien zuerst zweimal vollständig in Argentinien, ist dort seither längst vergriffen, dann in französischer Übersetzung in Frankreich, inzwischen fast ganz vergriffen, und aktuell umfassend allein in Deutschland.
Und der deutsche Lyriker Walle Sayer beurteilt das Werk seines argentinischen Kollegen Juarroz so: »Einfach wunderbar klare Gedichte, Nähe und Weite in einem, worin alles ineinander übergeht, die Einsamkeit eine Prüfung der Wirklichkeit ist, mit dem Gedanken etwas geöffnet wird zwischen dem Wort und der Stille. Eine Philosophie des Blickes, der sich beim Schauen selber erschafft. Poesie des Alltags, wenn die Dinge in ihre Anwesenheit fliehen, Lichttheorien, einen das Sehen lehren: ›Eine brennende Lampe / mitten am Tag, / ein verlorenes Licht im Licht‹.«
Allgemein gilt der argentinische Dichter und Denker Roberto Juarroz als ein moderner Klassiker der lateinamerikanischen Lyrik, siehe auch »Im babylonischen Süden der Lyrik« Folge 2, Folge 15, Folge 29, Folge 38, Folge 77, Folge 103 und Folge 104.

Roberto Juarroz
Poesía vertical inédita – Unveröffentlichte vertikale Poesie
Gedichte (zweisprachig: Spanisch – Deutsch)
Edition Delta 2025
Broschur
148 Seiten
20,00 Euro [D] (22,00 Euro [A/CH])
ISBN 978-3-927648-95-1

Tobias Burghardt (Jahrgang 1961) ist Lyriker, Essayist, Übersetzer und Verleger der Stuttgarter Edition Delta (www.edition-delta.de). Er veröffentlichte den Essayband »Ein Netz aus Blicken. Essays für lateinamerikanische Lyrik« und mehrere Lyrikbände, darunter seine Fluss-Trilogie sowie »Septembererde & August-Alphabet«. Zuletzt erschien seine Werkauswahl »Mitlesebuch 117« (Aphaia Verlag, Berlin/München 2018), sein aktueller Gedichtband »Die Elemente der See« und die umfangreiche Werkauswahl 1991–2021 »Das Gedächtnis des Wassers«. 2020 erhielt er den Internationalen Poesiepreis »Città del Galateo – Antonio de Ferrariis« in Rom, Italien. Seine Gedichte wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und Einzeltitel erschienen in Argentinien, Indien, im Irak, in Japan, Kolumbien, Portugal, Serbien, Schweden, Uruguay und Venezuela. Er ist Mitbegründer und Koordinator des »Babylon Festivals für Internationale Kulturen & Künste«, das seit 2012 jährlich in Babylon und Bagdad stattfindet.
Mit seiner Frau Juana Burghardt überträgt er lateinamerikanische Lyrik, katalanische Poesie, lusophone Lyrik und spanische Poesie. Sie sind Herausgeber und Übersetzer der Werkreihe von Miquel Martí i Pol, aus der Pep Guardiola im Sommer 2015 im Literaturhaus München las, und seit Herbst 2014 der Stuttgarter Juarroz-Werkausgabe, dem wir das GEDICHT-Motto »Ein Gedicht rettet einen Tag« (Roberto Juarroz) verdanken. Im Frühjahr 2017 wurden beide für ihr jeweiliges poetisches Werk und ihr gemeinsames literarisches Engagement zwischen den Kulturen und Sprachen mit dem »Internationalen KATHAK-Literaturpreis« in der südasiatischen Metropole Dhaka, Bangladesch, und als Verlagsteam der Edition Delta mit dem »Deutschen Verlagspreis 2021« und dem »Deutschen Verlagspreis 2024« des Kulturstaatsministeriums, Berlin, ausgezeichnet. Tobias Burghardt war GEDICHT-Redakteur der ersten Stunde und organisierte immer wieder wunderbare Sonderteile mit lateinamerikanischer Poesie für unsere Zeitschrift DAS GEDICHT.
Alle bereits erschienenen Folgen von »Im babylonischen Süden der Lyrik« finden Sie hier.