Tobias Burghardt flaniert jeweils am 5. eines Monats auf DAS GEDICHT blog durch die südlichen Gefilde der Weltpoesie. In der Rubrik »Im babylonischen Süden der Lyrik« werden Sprachgemarkungen überschritten und aktuelle Räume der poetischen Peripherien, die innovative Mittelpunkte bilden, vorgestellt.
Laura Cerrato
CASI HAIKU (4–6)
4
Grillos en la noche.
No se puede oír el pensamiento.
5
El mapa de la higuera
varía sus puntos cardinales
para que los higos existan o no,
según quién la mire.
6
Telaraña en el viento.
Tal vez sólo el vuelo
pueda atrapar al vuelo.
© Laura Cerrato
BEINAHE HAIKU
4
Grillen in der Nacht.
Man kann den Gedanken nicht hören.
5
Die Karte des Feigenbaums
ändert ihre Himmelsrichtungen,
so dass es Feigen gibt oder nicht,
je nachdem, wer sie betrachtet.
6
Spinnennetz im Wind.
Vielleicht kann nur der Flug
den Flug einfangen.
© Laura Cerrato
Übersetzt von Juana Burghardt & Tobias Burghardt
Laura Cerrato (vollständig: de Juarroz) ist auch hierzulande eine wohlbekannte argentinische Dichterin, Essayistin und Literaturwissenschaftlerin. Ihre Gedichte erschienen u. a. im »Jahrbuch der Lyrik«, herausgegeben von Michael Braun, Christoph Buchwald und Michael Buselmeier (Verlag C. H. Beck, München 1996), in dem wir dreizehn bedeutende Lyrikerinnen und Lyriker der neuen argentinischen Poesie vorstellten, was nach der wegbereitenden Rezeption des Werkes von Jorge Luis Borges – das erste Gesamtwerk eines argentinischen Dichters in deutschsprachigen Gefilden – in sich schlüssig war. Ebenso erschienen ihre klugen Essays u. a. in der Literaturzeitschrift »Der Pfahl« (Matthes & Seitz Verlag, München 1995) sowie in den jeweilig zweisprachigen Werkausgaben von Antonio Porchia (Tropen Verlag, Berlin 1999, 2002, 2005, Imprint bei Klett-Cotta, Stuttgart 2008; allesamt vergriffen) und von Roberto Juarroz (Edition Delta, Stuttgart 2014 bis heute, alle 14 Einzeltitel in 11 Bänden), die wir ins Deutsche übertrugen, siehe auch »Im babylonischen Süden der Lyrik« Folge 15, Folge 29, Folge 38 und Folge 77.
Laura Cerrato verfasste eindrucksvolle Essays über jenes poetische »Dreigestirn des Südens«, chronologisch: Antonio Porchia (Conflenti, Kalabrien, 13. November 1885 – 9. November 1968, Buenos Aires), Jorge Luis Borges (Buenos Aires, 24. August 1899 – 14. Juni 1986, Genf) und Roberto Juarroz (Coronel Dorrego, 5. Oktober 1925 – 31. März 1995, Buenos Aires).
Außerdem schrieb Laura Cerrato über Emily Dickinson, René Char, Octavio Paz, António Ramos Rosa, Roger Munier, Tom Stoppard und James Joyce oder über »die frühen Versuche einer metapoetischen Annäherung« der okzitanischen Poesie von Guillaume IX d’Aquitaine bzw. Wilhelm IX., Herzog von Aquitanien, dem ersten bekannten provenzalischen Trobador, und Guirault de Bornelh, dem späteren Troubadour der »trobar leu«, auch als Girautz de Borneill verzeichnet. Weitere literarische Themen ihre Essayistik sind »Der Aphorismus und das fragmentarische Schreiben«, besonders allerdings Samuel Beckett. Zu ihrem Essaywerk gehören folgende Titel: »Ensayos sobre poesía comparada« (Essays über Poesie-Komparistik bzw. Vergleichende Poesiewissenschaften), Buenos Aires 1985; »Doce vueltas a la literatura« (Zwölf Runden um die Literatur), Buenos Aires 1992; »Génesis de la poética de Samuel Beckett« (Genese der Poetik von Samuel Beckett), Buenos Aires 1999.
Ihr poetisches Werk umfasst die folgenden Einzeltitel: »Otredades« (Andersheiten), Buenos Aires 1980, frz.: »Altérités«, Brüssel 1986; »Palabras en el espejo« (Wörter im Spiegel), Buenos Aires 1987, frz.: »Paroles dans le miroir«, Brüssel 1989; »Contemplación del silencio« (Betrachtung der Stille), Buenos Aires 1999; »No estoy en casa« (Ich bin nicht Zuhause), Buenos Aires 2001. Ihre Werkauswahl »Como un espejo demorado – Comme un miroir qui s’attarde« (Wie ein verzögerter Spiegel), Gedichte 1987-2001, zweisprachig: Spanisch – Französisch, erschien 2004 in der Lyrikreihe »Écrits des Forges« der Universität von Québec, Trois-Rivières, Kanada, ebenfalls übertragen vom belgischen Dichter, Essayisten und Übersetzer Fernand Verhesen, der zudem Gedichte von Roberto Juarroz, sein Erstübersetzer ins Französische, und Alejandra Pizarnik übertrug.
Diese Gedichte des zweiten und dritten Lyrikbandes von Laura Cerrato, hier auf Deutsch »Wörter im Spiegel« und »Betrachtung der Stille«, sind für diejenigen, die beginnen können, sie selbst näher kennenzulernen und an sich wertzuschätzen. Die Klarheit ihrer Stimme und ihres Blicks überdauern im Gedächtnis derer, die Laura Cerrato persönlich gekannt haben und zu schätzen wissen, siehe auch »Im babylonischen Süden der Lyrik« Folge 2 und Folge 103.
»Palabras en el espejo & Contemplación del silencio – Wörter im Spiegel & Betrachtung der Stille«
von Laura Cerrato
bei Edition Delta
Tobias Burghardt (Jahrgang 1961) ist Lyriker, Essayist, Übersetzer und Verleger der Stuttgarter Edition Delta (www.edition-delta.de). Er veröffentlichte den Essayband »Ein Netz aus Blicken. Essays für lateinamerikanische Lyrik« und mehrere Lyrikbände, darunter seine Fluss-Trilogie sowie »Septembererde & August-Alphabet«. Zuletzt erschien seine Werkauswahl »Mitlesebuch 117« (Aphaia Verlag, Berlin/München 2018), sein aktueller Gedichtband »Die Elemente der See« und die umfangreiche Werkauswahl 1991–2021 »Das Gedächtnis des Wassers«. 2020 erhielt er den Internationalen Poesiepreis »Città del Galateo – Antonio de Ferrariis« in Rom, Italien. Seine Gedichte wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und Einzeltitel erschienen in Argentinien, im Irak, in Japan, Kolumbien, Portugal, Serbien, Schweden, Uruguay und Venezuela. Er ist Mitbegründer und Koordinator des »Babylon Festivals für Internationale Kulturen & Künste«, das seit 2012 jährlich in Babylon und Bagdad stattfindet. Mit seiner Frau Juana Burghardt überträgt er lateinamerikanische Lyrik, katalanische Poesie, lusophone Lyrik und spanische Poesie. Sie sind Herausgeber und Übersetzer der Werkreihe von Miquel Martí i Pol, aus der Pep Guardiola im Sommer 2015 im Literaturhaus München las, und seit Herbst 2014 der Stuttgarter Juarroz-Werkausgabe, dem wir das GEDICHT-Motto »Ein Gedicht rettet einen Tag« (Roberto Juarroz) verdanken. Im Frühjahr 2017 wurden beide für ihr jeweiliges poetisches Werk und ihr gemeinsames literarisches Engagement zwischen den Kulturen und Sprachen mit dem »Internationalen KATHAK-Literaturpreis« in der südasiatischen Metropole Dhaka, Bangladesch, und als Verlagsteam der Edition Delta mit dem »Deutschen Verlagspreis 2021« des Kulturstaatsministeriums, Berlin, ausgezeichnet. Tobias Burghardt war GEDICHT-Redakteur der ersten Stunde und organisierte immer wieder wunderbare Sonderteile mit lateinamerikanischer Poesie für unsere Zeitschrift DAS GEDICHT.
Alle bereits erschienenen Folgen von »Im babylonischen Süden der Lyrik« finden Sie hier.