rezensiert von Hellmuth Opitz
»Bewisperer von Gräsern und Nüssen«, nannte Gottfried Benn mit unnachahmlichem Spott vor mehr als 60 Jahren jene Generation von jungen Dichtern, die sich unmittelbar nach dem zweiten Weltkrieg zunächst dem Naturgedicht zuwandten. Darunter waren immerhin Namen wie Eich, Krolow, Huchel oder Bobrowski, die später zu prägnanten Figuren der deutschen Lyrik wurden. Und tatsächlich: In ihren frühen Gedichten tuteten die Rohrdommeln, es zilpzalpte in den Hecken, Schachtelhalme wogten sanft im Wind und Libellen standen überm Schilf. Es wäre aber Profanpsychologie, diese Gedichte nur als lyrischen Eskapismus zu bezeichnen, eine naturalistische Schockstarre angesichts der Schuld, die Deutsche mit der Entfesselung des Weltkriegs und dem Holocaust auf sich geladen hatten. Vielleicht war es eher ein Sichern der inneren und äußeren Bestände. Die große Zahl solcher Gedichte in der Nachkriegszeit war allerdings schon signifikant und veranlasste den Benn-Wiedergänger Peter Rühmkorf zu einem bissigen Kommentar über die »Anmut dürftiger Gebilde: / Kraut und Rüben gleich Gedicht.« Liest man viele dieser Gedichte heute, so haben sie zumeist etwas Starres, Lebloses an sich – wie vor langer Zeit gepresste Blumen in einem alten Biologiebuch.
Schaut man sich indes jetzt eine Auswahl aktueller Gedichtbände von zeitgenössischen Dichter und Dichterinnen an, weht einen unversehens eine Déjà-vu-Brise an. Man nehme nur einmal zwei Titel: Da werden »Skizzen vom Gras« gestrichelt und »Regentonnenvariationen« rhythmisiert. Damit wir uns verstehen: Das Besingen von Pflanzen und Tieren geschieht hier weitaus artistischer, virtuoser und gekonnter als vor 60 Jahren. Festzuhalten bleibt aber, dass Natur seit geraumer Zeit wieder ins Zentrum lyrischer Aufmerksamkeit rückt. Poetisches Guerilla-Gardening? Vielleicht. Silke Scheuermann und Jan Wagner, deren Bände ich hier repräsentativ genannt habe, sind ja nicht die Einzigen – Nico Bleutge, Anja Utler, Sabine Scho, die Aufzählung könnte beliebig fortgesetzt werden. Es mag auch hier um das Vergewissern innerer und äußerer Bestände gehen, die angesichts des Entstehens einer virtuellen Welt auf der roten Liste bedrohter Arten stehen. Aber das ist Spekulation.
Nun aber hagelt – um endlich einmal auf den Punkt zu kommen – ein neuer Gedichtband von Helmut Krausser dazwischen. Ein Band mit einem Titel, der, hat man noch das Grashalmgeraschel anderer Neuerscheinungen im Ohr, mit maximal spröder Rationalität und geradezu buchhalterischer Nüchternheit daher kommt. »Verstand & Kürzungen« heißt er und es ist, um es vorwegzunehmen, ein Gedichtband mit Mumm, voller Rauflust und gewillt, sich mit großen Vorbildern ebenso anzulegen wie mit poetischen Zeitgenossen: »Ich zähle 20.000 Krieger / im Lager der Feinde. / Nur einen in meinem. / Mich. / Die Chancen stehen pari. / Die Schlacht geht weiter.« Selbstbewusstsein und Muskelspiel gehören zur Serienausstattung dieses Bandes. Auch bei der Kapitelaufteilung zeigt sich der packende gestalterische Zugriff des Dichters. Statt filigraner Verknüpfung durch einen inhaltlichen roten Faden spricht hier jedes Kapitel Klartext zu dem, was drinsteht: »Neue Gedichte« heißt das erste Kapitel«, dann folgen »Bonus-Gedichte«aus Kraussers Best of-Band »Auf weißen Dünen«. Direkt nebeneinander stehen die »U 12« Kindergedichte und die »Ü 18 Abteilung« (was soll‘s, in vielen Städten findet sich in direkter Nachbarschaft zum Süßigkeiten-Kiosk ja oft genug ein Sexshop). Und dann, ja dann folgen die Mutproben: Krausser wagt sich an bekannte Gedichtklassiker und schreibt seine eigenen Coverversionen dazu und zu guter Letzt übersetzt er die nach seiner Meinung »33 besten Sonette Shakespeares« ins Deutsche. Eine klare Ordnung mit Ansage und Standpunkt.
Krausser-Kenner werden nicht enttäuscht: Gleich im ersten Kapitel finden sich die neuen Gedichte, die den für ihn typischen Tonfall aus Lakonie und Lässigkeit pflegen: »Morgenzigarette, / rom. im stehn, am tresen / die rosa sportgazette / überblättern / lesen. // gran caffé con latte. / knacken und geknister / einer schellackplatte. / der tenor von trister // stimme lobt die liebe. / passanten stehn und lauschen. / dazwischen taschendiebe, die beutestücke tauschen.« […] Ein Gedicht, das weniger durch beeindruckende Bilder als vielmehr durch seinen nonchalanten Wahrnehmungsgestus überzeugt. Weltläufige Kennerschaft und coole Attitüde, eingebettet in einfache, aber dafür auch mühelose Reime geben diesem Poem ein bemerkenswertes Standing. Man meint förmlich, die lässig eingeklemmte Morgenzigarette im Mundwinkel dieses Gedichts zu erblicken.
Kraussers Poetik stellt sich gar nicht erst die überflüssige Frage nach Verständlichkeit oder Hermetik. Geradezu selbstverständlich ist die Zugänglichkeit seiner Gedichte. Dennoch will sich Krausser im lyrischen Betrieb auch verorten oder präziser: Er will sich abheben. Ich persönlich mag keine Gedichte über Lyrik, Lyriker und poetische Positionen, die Abstraktion solcher Metaebenen finde ich auf Dauer langweilig. Wenn die Positionierung allerdings so elegant und salopp zugleich eingefangen wird wie in dem folgenden Gedicht, lasse ich mich vom Charme durchaus einwickeln: »War heute bei meinem / ersten Treffen der / Anonymen Größten Lyriker / aller Zeiten. / Außer mir nur / geisteskranke Scharlatane da. // Doch einen, den fand ich / doch rührend. / Er hielt sich / allen Ernstes für: / mich.« […]
Wenn schon Größenwahn, dann wenigstens schizophren gebrochen. Das oben erwähnte Standing braucht es natürlich besonders bei den erotischen Gedichten der Ü 18-Abteilung. Krausser geht das jenseits von political correctness und gendergerechtem Diskurs mit augenzwinkerndem Machotum an, gerne auch mal im Gestus des lebensrettenden Dichterfürsten: »bin selten so gut gefickt, so geil / geblasen worden wie von jener / frau , die sagt, sie habe, daß / sie lebt, nur meinen büchern zu / verdanken. wow! dann hatte alles / sinn. Und bringt sogar profit.« Der so beglückte Poet freut sich über derart reichen return on investment und bedauert in der zweiten Strophe all jene, die Jahrzehnte lang in dumpfer Hoffnung vor sich hinschreiben, ohne solchen Dank zu empfangen und einsam » …halten / ihren schwanz hinaus bei nacht / und sturm – und niemand kommt, / am ende nicht mal mehr sie selbst.« Breitbeinig stehen solche Sätze da, durchaus mit einem gewissen Prahlhans-Gestus, ganz gleich, ob sie »Glanz und Elend der Kudammkurtisanen« besingen oder sich Szenen wie diese ausmalen: »Käm ein Mägdelein in mein / Hotel, errötend, böte ihre / sechzehn Jahr mir dankbar dar:« Ob Rotlicht oder Unschuld, der Dichter lässt sich gern vom weiblichen Geschlecht überzeugen, »ficken kann man auch innere werte« und er verfasst darüber Verse, wie man sie seit Wondratschek nicht mehr gelesen hat.
Krausser wäre aber nicht der poetische Kraftbolzen, der er ist, wenn er nicht auch in den Ring steigen würde. Er legt sich dort mit Gedichtklassikern an, denen er seine Coverversionen gegenüberstellt. Auch vor Legenden hat er keine Scheu. Rilkes »Der Panther« stellt er eine Version gegenüber, die das fünfhebige Versmaß des Originals durch ein vierhebiges ersetzt, weil dieses, so Krausser, der Spannung im Gang des Panthers mehr entsprechen würde. Hier irrt er: Die träge Resignation des Panthers kommt in Rilke Version besser zum Ausdruck. Auch Kraussers Fassung von Celans »Todesfuge«, die er »von Redundanzen« entschlackt hat, reicht nicht an das Original heran, weil gerade die Wiederholungen rhetorisch notwendig sind, um den musikalischen Charakter des Klagegesangs zu wahren. Wie es so ist im Ring: Mal gewinnt er, wie etwa bei Christian Morgensterns »Wiesel«, das er mit einem eigenen souveränen Tiergedicht kontert oder bei Benn, dessen pathosschwangeres Gedicht »Ein Wort« bei Krausser heruntergestrippt wird auf einen Vierzeiler »licht / und lieder, / dann wieder/ nicht.« Besser kann man den Kern nicht herausarbeiten. Mal geht der Vergleich auch unentschieden aus, wie bei Brechts »Erinnerung an die Marie A.«, dann wieder kassiert Krausser auch krachende Niederlagen. An Eichendorffs »Mondnacht« reicht sein romantikbefreites Elaborat bei weitem nicht heran – technischer K. O. in der ersten Runde.
Fast so interessant wie diese Coverversionen sind auch Kraussers Kommentare zu jedem dieser Vergleiche: Trakl und Benn hält er für überschätzt, bei Hölderlin attestiert er sich selbst »Übermut«, sich an diese »riesenhaften Gedichte« zu wagen. Aber immerhin, seine Coverversion von Hölderlins »An die Parzen« mag zu Beginn eine »frivole Travestie« sein, am Ende aber steht eine »geglückte Symbiose«. So kann man das Empfinden, auf Augenhöhe zu sein, auch ausdrücken.
Zum letzten Kapitel mit den laut Krausser »33 besten« von Shakespeares insgesamt 154 Sonetten, lässt sich nur konstatieren: Grandios übertragen, formal zupackend, zugleich aber mit feinem Meißel den Kern freilegend.
»Verstand & Kürzungen« ist ein Gedichtband mit Wucht und Verve, ein kraftvolles Statement im allgemeinen Gewisper des zeitgenössischen Poetik-Diskurses. Ich könnte mir vorstellen, dass viele Kritiker ihn mit spitzen Fingern anfassen, weil er »überwunden geglaubte« Formen und Positionen unbekümmert revitalisiert. Gerade deshalb ist er so lesenswert.
Helmut Krausser
Verstand & Kürzungen
Gedichte
DuMont Buchverlag, Köln 2014
Hardcover, 224 S.
€ 22,99 (D)
»Verstand & Kürzungen« bei Calle Arco kaufen
Hellmuth Opitz wurde 1959 in Bielefeld geboren, wo er auch heute lebt. Er gilt inzwischen als einer der besten deutschen Liebeslyriker. Nach seinen Anfängen als Rock- und Folkmusiker interviewte er für überregionale Musik-Magazine wie »Musikexpress« oder »Rolling Stone« u. a. Aerosmith, Bad Religion und Wim Wenders. Zusammen mit Matthias Politycki und Steffen Jacobs tourte er mit dem Poesieprogramm »Frauen. Naja. Schwierig«, das auch auf CD vorliegt, durch Deutschland. Bislang erschienen von ihm neun Gedichtbände, zuletzt »Die Dunkelheit knistert wie Kandis« (2011) sowie »Aufgegebene Plätze. Verlorene Posten« (Künstlerbuch, 2013).