Seit 25 Jahren begleitet die Zeitschrift DAS GEDICHT kontinuierlich die Entwicklung der zeitgenössischen Lyrik. Bis heute ediert sie ihr Gründer und Verleger Anton G. Leitner mit wechselnden Mitherausgebern wie Friedrich Ani, Kerstin Hensel, Fitzgerald Kusz und Matthias Politycki. Am 25. Oktober 2017 lädt DAS GEDICHT zu einer öffentlichen Geburtstagslesung mit 60 Poeten aus vier Generationen und zwölf Nationen ins Literaturhaus München ein. In ihrer Porträtreihe stellt Jubiläumsbloggerin Franziska Röchter jeden Tag die Teilnehmer dieser Veranstaltung vor.
Bardola begründete in den 1980er Jahren die Reihe »Wegweiser durch die internationale Kinder- und Jugendliteratur« (IJB), betreute Buch- und Illustratoren-Ausstellungen und war u.a. Juror beim Premio H.C. Andersen und Juror beim Deutschen Jugendliteraturpreis für das Gesamtwerk eines Übersetzers. Seit 2005 erscheint sein Almanach »Lies doch mal! Die 50 besten Kinder- und Jugendbücher« (cbj). Bardola schreibt für verschiedene Feuilletons und Zeitschriften, bloggt für ZVAB und dreht Videocasts mit »FOCUS SCHULE«. 2012 veröffentlichte er »Utopien. Ein Lesebuch« (S. Fischer) und »Morton Rhue. Leben und Werk« (Ravensburger).
Nicola Bardola gab 2005 mit seinem Buch »Schlemm« der Diskussion zum Thema selbstbestimmtes Lebensende in Deutschland neuen Auftrieb. Bardola sprach mit Franziska Röchter über die Geschäfte mit der Palliativmedizin, Gewalt in der Jugendliteratur und gesellschaftliche Utopien.
Die Herausforderung einer hilfreichen Lebensphilosophie besteht darin, schöpferisch mit der Absurdität des Daseins umzugehen.
Lieber Nicola Bardola, 2015 knüpften Sie an ihren Bucherfolg von 2005, »Schlemm«, an und schrieben einen weiteren Roman zum Thema Sterbehilfe und Freitod. Die Protagonisten tragen sogar die gleichen Namen. Worin unterscheidet sich dieser Roman von seinem thematischen Vorgänger?
In den zehn Jahren nach »Schlemm« ist viel passiert. Nach Veranstaltungen kamen Leser auf mich zu und wollten mehr wissen. Mein Ordner mit Korrespondenz quillt über. »Schlemm« wühlt auf. Eine der Fragen, die mich besonders nachdenklich stimmte, war ganz einfach und knapp in der Formulierung, aber sehr intensiv im Ausdruck und so vehement in der Betonung, dass sie heute noch nachklingt: »Wie es Ihren Eltern ergangen ist, das wissen wir jetzt. Aber wie geht es Ihnen?« Diese Frage war der Auslöser für den weiteren Roman »Patt«, der ursprünglich »Schalm« hieß. Er ist tatsächlich nicht viel mehr als eine Antwort darauf: »Patt« zeigt Luca beim Komponieren eines Requiems für seine Eltern und ist eine Zustandsbeschreibung nach den »Schlemm«-Ereignissen oder, wie ein Kollege meinte: »Erzählerischer Stillstand«. Damit kann ich leben, denn »Patt« ist auch ein Prosa-Puzzlestein auf dem Weg zum Textgebirge »Großschlemm«, dem Grand-Slam, den es ja auch im Bridge gibt.
Ich bin guter Dinge, dass sich die Vernunft langsam durchsetzen wird.
Ein am 2. März 2017 gefälltes Urteil des Bundesverwaltungsgerichts in Leipzig erteilte in ›extremen Ausnahmefällen‹ sterbewilligen Menschen in Deutschland das Recht auf eine tödliche Dosis Betäubungsmittel und löste damit eine erneute Debatte über Sterbehilfe aus. Was hat sich in den vergangenen Jahren im Bereich der Sterbehilfe, der öffentlichen Diskussion oder womöglich in der Gesetzgebung tatsächlich geändert?
Ich empfinde die Debatte in Deutschland für Menschen, die selbstbestimmt sterben wollen, nach wie vor als entwürdigend. Das Leipziger Urteil ändert kaum etwas an der Katastrophe, dass Menschen in die Schweiz fahren oder sich hierzulande gewaltsam das Leben nehmen. Für eine Liberalisierung sind die deutschen Entscheider zu befangen.
Ich bin aber guter Dinge, dass sich die Vernunft langsam durchsetzen wird. Vergangenes Jahr hat beispielsweise Matthias Thöns mit seinem Bestseller »Patient ohne Verfügung – Das Geschäft mit dem Lebensende« die Öffentlichkeit wachgerüttelt. Großartig. Schönheitsfehler: Thöns kritisiert kompetent die Apparatemedizin in Kliniken, ist selbst Palliativarzt und Gründer von Palliativnetzen und versäumt es, Selbstkritik zu üben, das heißt auf die Geschäfte der Palliativmedizin hinzuweisen. Die Umsätze und Gewinne, die mit Apparaten, Medikamenten, Personal und so weiter ausschließlich für final Erkrankte in Palliativstationen generiert werden, bedürfen einer ebenso kritischen Analyse.
Man kann sich auf der Seite von EXIT.ch die aktuellen Mitglieder-Magazine kostenfrei herunterladen, auch wenn man kein Mitglied ist. Eine gute Möglichkeit, um sich mit der Thematik näher auseinanderzusetzen. Nicht-Schweizer können aber kein Mitglied werden, sondern müssen auf Organisationen wie Dignitas zurückgreifen. Gibt es ähnliche Organisationen mittlerweile in Deutschland? Immerhin hat die Debatte dazu geführt, dass 2015 der neue §217 ins Strafgesetzbuch eingefügt wurde … Heißt das, das notwendige Medikament wird quasi schwarzmarktähnlich ›unter der Hand‹ weitergereicht, die Bezahlung ist nicht nachweisbar, und man findet einen Angehörigen, der genug Stamina hat, das Mittel zu verabreichen?
Das Mittel wird nicht verabreicht. Der Sterbewillige nimmt es selbst. Das Nadelöhr ist der Zugang zum Medikament. Wie bekomme ich es? Wer beschafft es für mich? Das muss kein Angehöriger sein. Es gibt längst Ärzte oder karitativ tätige Menschen, die das tun und sich damit in einer Grauzone bewegen. Ich beschreibe das auch in meinen Büchern. Sobald – vergleichbar mit dem Drogenhandel – versucht wird, ein Geschäft daraus zu machen, wird die Sache inakzeptabel. Juristisch und moralisch betrachtet erinnert das an die lange währende Abtreibungsdebatte. Die Gesellschaft ist auf dem Weg: Mein Tod gehört mir. Es muss Rechtssicherheit geschaffen werden.
Was mir erst jetzt so richtig aufging: Wieso kann eigentlich Franca, die Protagonistin in »Schlemm« und »Patt«, so ohne weiteres Pauls Weg mitgehen, obwohl sie selbst doch gar nicht krank ist? Übersteigt das nicht die Dimension der gegenwärtigen Diskussionen noch um ein Vielfaches?
Ja. Der Fall Franca verschärft die Diskussion und dient dazu, sich genauer klar zu machen, was erlaubt ist. Franca ist auch krank, aber nicht sterbenskrank. Jemand nannte das gemeinsame Ende von Franca und Paul: »Der größtmögliche Beweis für Liebe«. Eine solche Liebe soll ja gerade die gegenwärtige Diskussion übersteigen.
Darf ich fragen, ob Sie auch Mitglied einer solchen Organisation sind?
Ja. Es freut mich, dass die Schweiz eine traditionsreiche Organisation wie »Exit« erlaubt. Natürlich bin ich da Mitglied. Wie ich am Ende sterbe, steht in den Sternen. Aber die Möglichkeit, legal, schmerzlos und selbstbestimmt und nicht als Opfer einer qualvollen Übertherapie oder in einem deprimierenden Hospiz zu sterben, ist mir wichtig und thematisch Teil von »Großschlemm«.
Bemerkenswert: Hinter vorgehaltener Hand sprechen sich gerade Ärzte, die mitverantwortlich sind für die Gewinnmaximierung dank High-Tech-Medizin am Lebensende, für eine Organisation wie Exit aus. Sie praktizieren an ihren final erkrankten Patienten Methoden, die sie selbst niemals über sich ergehen lassen würden.
Jugendliche stellen sich einer auch brutalen Realität.
Die Rezeption von Literatur bei Kindern liegt Ihnen seit jeher am Herzen. 2015 veröffentlichten Sie das Buch »Licht im Bunker: Die Debatte um Gewalt in der Jugendliteratur. Eine Dokumentation«. Darin geht es um die Fragestellung, wie viel Gewalt das Jugendbuch verträgt und wo die Grenze zwischen literarischer Qualität und Gewaltverherrlichung verläuft. Können Sie kurz die Quintessenz Ihrer Dokumentation zusammenfassen?
Ausgangspunkt war eine Journalistin, die klagte, es gebe zu viele »Geschichten über Amok, Aids, Alkohol, Alzheimer, Asperger, Autismus, Behinderung, Drogen, Missbrauch, Mobbing, Krebs und Krieg«. Die Jugendlichen fänden zu viele Titel über Gewalt in der Familie oder über Kinderprostitution. Sie fragte, für wen und warum die Jugendliteratur diese Geschichten erzähle. Sie dienten weder der Aufklärung noch der Bewältigung. Daraus folgerte sie, Leser müssten sich gegen diese neue »Elendsliteratur« wappnen. Als Beispiele nannte sie jedoch mehrfach ausgezeichnete und ausgesprochen literarische Titel. Diesem Widerspruch und der Herkunft und Bedeutung des Begriffs »Elendsliteratur« wollte ich auf den Grund gehen und kam zum Schluss, dass intelligente Auseinandersetzungen mit den genannten Themen empfehlenswert und Jugendlichen zumutbar sind. Meistens sind es die Erwachsenen, die Probleme damit haben. Jugendliche hingegen stellen sich einer auch brutalen Realität, weil sie wissen, dass Dinge passieren, wie sie in diesen Büchern geschildert werden. Bei den Erwachsenen ist es eine moralische Kategorie, so als lebten die Jugendlichen in einer Parallelwelt, wo alles rosig und kuschlig ist. Diese anspruchsvollen und herausfordernden Romane stelle ich Bestsellern gegenüber, in denen Gewalt Selbstzweck und pure Action ist, was dieselben Erwachsenen eher als unproblematisch betrachten.
2012 gaben Sie unter dem Titel »Utopien« im S. Fischer Verlag ein Lesebuch heraus. Welche der darin enthaltenen ›Gesellschaftsentwürfe‹ sind ihre Lieblingsutopien, und können Sie diese kurz skizzieren?
Grundlage ist Thomas Morus’ »Utopia«, was den Gestus und das Visionäre betrifft. Sogar im Detail ist der Text von 1516 heute noch bedenkenswert. In der Anthologie zitiere ich unter anderem Passagen zur Arbeitswelt. Morus unterscheidet zwischen notwendiger Handwerkstätigkeit und all den anderen Verrichtungen: »(…) müssen doch, da wir alle Werte nur am Maßstabe des Geldes messen, vielerlei ganz unnütze und überflüssige Gewerbe betrieben werden, die nur der Verschwendung und Genusssucht dienen!«
Enorm ist nicht nur die Wortgewalt, die Überzeugungskraft der Sprache, sondern auch inhaltlich all das, was der humanistische Autor vorweggenommen hat. Heute dominieren Dystopien. Denker und Politiker befassen sich vorwiegend mit nostalgischen und rückwärtsgewandten Gesellschaftsmodellen. Innovationen und Visionen finde ich im Silicon Valley. Diese lohnen die kritische Auseinandersetzung.
Es geht bei einer funktionierenden Gesellschaft weniger um Transzendenz, das Übersteigen, sondern um das Steigen.
Und wie sähe Ihre ganz persönliche Utopie einer perfekten, gut funktionierenden Gesellschaft aus, in der möglichst viele Menschen glücklich sind?
Die Utopie geht einerseits vom Einzelnen aus. Er hat heute die Möglichkeit, die eigene positive Utopie zu verwirklichen. Dazu gehören Fragen zur individuellen Zufriedenheit: Wieweit verweigere ich mich unserer Wegwerfgesellschaft? Wieweit nähere ich eigene Wünsche und Ziele den tatsächlichen Umständen an? Wieweit öffne ich mich Fremdem und Neuem? Positive Werte dominieren, ähnlich derer von den Religionen vertretenen, aber ohne Machtanspruch, ohne Gefühle der Überlegenheit, ohne das Programm des Allumfassenden schon im Namen. Der Übergang von religiöser Abhängigkeit zu Selbstbestimmung vollzieht sich in Zwischenschritten und bedarf ethischer Momente ohne (Aber-)glauben. Es geht bei einer funktionierenden Gesellschaft weniger um Transzendenz, das Übersteigen, sondern um das Steigen. Die Utopie geht andererseits von der Gesellschaft aus, auf die jeder Einfluss nimmt. Die westlichen Industrienationen rücken seit Jahrzehnten nicht von vielen als verhängnisvoll erkannten Entwicklungen ab. Weil aber Ausbeutung, Umweltzerstörung oder Waffenexporte den Rekord-Wohlstand hier sichern, lassen wir bereitwillig unser Gewissen beruhigen. Der Werkzeugkoffer für Verbesserungen steht bereit.
Das Verschieben der Erklärungsnot auf Götter und Propheten mindert Blessuren, ist aber eine Notlösung.
Lieber Nicola Bardola, Sie werden ja, wie schon vor fünf Jahren, im Oktober im Literaturhaus München die große Jubiläumsveranstaltung »25 Jahre DAS GEDICHT« zusammen mit Sabine Zaplin moderieren. Thema der diesjährigen Ausgabe ist Religion. Was ist Ihre persönliche Religion oder Lebensphilosophie? Wie kommt man am glücklichsten und ohne große Blessuren durchs Leben? Woran glauben Sie?
Ich wurde zufällig in die christliche Tradition hineingeboren. Davon nehme ich gerne immer aufs Neue Abstand und blicke auf Alternativen von Bahaitum bis Zen. Leider will jede Religion besser sein als die andere. Wenn Völker behaupten, besser als andere zu sein, führt das zu Nationalismus, Rassismus und Krieg. Religionen verursachen Leid. Offenbar können Menschen darauf nicht verzichten, solange sie Phänomene wie die Unendlichkeit nicht begreifen oder die Fatalität von Schicksalsschlägen nicht aushalten. Eltern halten schon den Kinderfragen nach dem All nicht stand. Das Verschieben der Erklärungsnot auf Götter und Propheten mindert Blessuren, ist aber eine Notlösung. Die Herausforderung einer hilfreichen Lebensphilosophie besteht darin, schöpferisch mit der Absurdität des Daseins umzugehen. Am Ende sollte sich die Vita irgendwie runden und in der Summe den eigenen Ansprüchen entsprechen.
Lieber Nicola Bardola, ganz herzlichen Dank!
Nicola Bardola
Patt
Piper, München 2015
242 Seiten, E-Book
ISBN: 978-3-492-98503-1
Unser »Jubiläumsblog #25« wird Ihnen von Franziska Röchter präsentiert. Die deutsche Autorin mit österreichischen Wurzeln arbeitet in den Bereichen Poesie, Prosa und Kulturjournalismus. Daneben organisiert sie Lesungen und Veranstaltungen. Im Jahr 2012 gründete Röchter den chiliverlag in Verl (NRW). Von ihr erschienen mehrere Gedichtbände, u. a. »hummeln im hintern«. Ihr letzer Lyrikband mit dem Titel »am puls« erschien 2015 im Geest-Verlag. 2011 gewann sie den Lyrikpreis »Hochstadter Stier«. Sie war außerdem Finalistin bei diversen Poetry-Slams und ist im Vorstand der Gesellschaft für
zeitgenössische Lyrik. Franziska Röchter betreute bereits 2012 an dieser Stelle den Jubiläumsblog anlässlich des »Internationalen Gipfeltreffens der Poesie« zum 20. Geburtstag von DAS GEDICHT.