Auszeichnungen, Institutionen, Konferenzen, Lesungen, Poesie im Feuilleton und Lyrik-Neuerscheinungen: Nicola Bardola kommentiert und präsentiert am 20. eines Monats Bemerkenswertes aus der Welt der Verse.
»Die schönsten Streichhölzer der Welt« heißt eine Auswahl aus dem Gesamtwerk des US-amerikanischen Lyrikers Ron Padgett. Obwohl Padgett nie ein Gedicht dieses Namens geschrieben hat, ist der Titel gut gewählt. »Die schönsten Streichhölzer der Welt« spielt auf das derzeit wohl bekannteste Poem Padgetts an, das schlicht »Liebesgedicht«, also »Love Poem« heißt. Es handelt von Streichhölzern. Es illuminiert, so wie das viele andere Texte in diesem Buch auch tun. Ron Padgett, 1942 in Tulsa geboren und seit 1960 in New York City lebend, erleuchtet seine Protagonisten und seine Leser in wörtlichem und in übertragenem Sinn:
Sie sind erstklassig verpackt, kompakte
kleine Schachteln mit dunkel- und hellblauem und weißem
Etikett mit Worten gesetzt in Form eines Megaphons,
als wollten sie umso lauter in die Welt posaunen:
»Hier ist das schönste Streichholz der Welt (…)«
Natürlich drängt sich mit Giuseppe Ungaretti ein beherztes »M’illumino / d’immenso« als Echo dieser Zeilen auf. Nur ist es hier nicht »Mattina«, der Morgen, der Sonnenaufgang. Hier ist es das Streichholz. »Love Poem« ist berühmt geworden, weil es 2016 Kinobesucher in aller Welt begeisterte. Jim Jarmuschs Film »Paterson« öffnete einem großen Publikum den Blick für das Potential von Poesie.
Dinge
Seit Jahrzehnten ist der Lyriker Ron Padgett mit Jim Jarmusch befreundet. Schon in früheren Filmen Jarmuschs tauchten Anspielungen auf Gedichte Padgetts auf. Für »Paterson« bat der Regisseur den Autor der legendären »Great Balls of Fire« darum, neue Gedichte zu schreiben. Die großen Feuerbälle brachten Padgett 1969 den Durchbruch. Kirkus Reviews schrieb bei Erscheinen: »The 58 works in ›Great Balls of Fire‹ (which shares its title with the rock’n’roll song) include delicate lyrics, occasional poems, flat-toned narratives, forays into pure abstraction, concrete poems, one-line poems, nonsense verse, parodies, love poems, phonetic translations, a poem in French and a number of other experiments and curios.« Aufbauend auf diesen Eigenschaften variierte Padgett die Inhalte und veröffentlichte bis heute 25 weitere Gedichtbände. Dank der einfühlsamen Inszenierung Jarmuschs gehören die Paterson-Poeme heute zu seinen verbreitetsten Texten. Es ist das Verdienst der Dieterich’schen Verlagsbuchhandlung und des Herausgebers und Übersetzers Jan Volker Röhnert diese Stücke in deutscher Sprache im Rahmen einer Auswahl des Gesamtwerks zu veröffentlichen. (Aus Platzgründen und weil in deutscher Übersetzung zumindest antiquarisch erhältlich, fehlen die »Great Balls of Fire« in dieser Ausgabe.)
Europa
Padgett wird zur »New York School of Poetry« der zweiten Generation gezählt, wie auch Frank O’Hara, John Ashbery oder David Shapiro. »Ihre Gedichte nehmen sich selbst nicht so ernst. Sie feiern die kleinen Dinge. Jedes Gedicht wird immer nur für eine bestimmte Person und nicht für die ganze Welt geschrieben«, erklärt Jarmusch. Padgett begann in seiner Heimatstadt als Underground Poet. Er gründete schon in der High-School gemeinsam mit Joe Brainard die Literaturzeitschrift »The White Dove Review«. Darin erschienen Texte als Erstausgaben u. a. von Robert Creeley, Grogory Corso, Allen Ginsberg oder Jack Kerouac. Die Zeitschrift wurde nach fünf Ausgaben eingestellt und Padgett ging nach New York ans Columbia College. 1965 bekam er ein Fullbright Stipendium und verbrachte ein Jahr in Paris. Seither sind Bezüge zu französischen Künstlern in seinem Werk besonders stark. Er übersetzte (u. a. Guillaume Apollinaire und Blaise Cendrars) und schrieb auch einige eigene Texte auf Französisch. Danach reiste er immer wieder nach Europa und wurde zum Bindeglied der Lyrik-Szenen in die USA.
Hunger
Ron Padgett ist ein Poeta doctus: Seine Texte sind angereichert mit Anspielungen auf verstorbene und zeitgenössische Dichter- und Künstlerkollegen: Goethe und Rimbaud, Marx und Mozart haben ihre Auftritte. Ebenso René Descartes, Wladimir Majakowski, Stéphane Mallarmé, Gustave Flaubert bis hin zu Woody Woodpecker. Und natürlich ist William Carlos Williams’ Gedichtzyklus »Paterson« besonders präsent. Schon 1934 ist Williams‘ »This Is Just to Say« entstanden, das Padgett mit den Worten aufnimmt: »Hätt ich nur ein paar Pflaumen / wie in Williams’ Gedicht.« Manche würdigen Padgetts originelle Weiterführung und nehmen sie zum Anlass, über den Fehler, das Wort »Pflaume« für die Frucht zu halten, und über den Übergang von den Dingen der realen Welt zu Objekten in Gedichten nachzudenken. Andere werfen Padgett Epigonentum vor. In der Tat befeuern die poetischen Pflaumen Spekulationen über Gegenstand und Nachahmung, über Realien und Kunstgegenstände, über Lyrik als Nahrung. Diesen Debatten ist mit Ferdinand de Saussures Lehre der Zeichen im Sprachgebrauch gut beizukommen: Der Begriff »Signifié« (»Bezeichnetes«, gemeint sind also die Pflaumen) steht für die Vorstellung. Der Begriff »Signifiant« (»Bezeichnendes«) für das Lautbild. Das Zeichen, die geschriebenen Pflaumen, ist die Verbindung der beiden. Bon appétit.
Dimensionen
Im Dezember 2016 saß ich fast alleine in einem Vorstadt-Kino und ließ mein kleines Tonband während des Films »Paterson« laufen. Die Frage der Dimensionen beschäftigt mich seit meiner Kindheit, als mir mein Vater den Roman »Flächenland« (»Flatland. A Romance of Many Dimensions«) von Edwin Abbott Abbott vorlas. Und nun zaubert dieser in seinen Pausen dichtende Busfahrer namens Paterson – wie einst Frank O’Hara seine »Lunch Poems« – neue Zeilen aufs Papier, die nicht nur meine Gefühle einfangen, wenn ich an die Abenteuer des Quadrats im 19. Jahrhundert denke. Sie bereichern das Verhältnis zu Raum und Zeit und sorgen zugleich für Heiterkeit. Padgett erinnert sich in »Noch eine« an seine Kindheit, an die Art, wie einem die drei Dimensionen beigebracht wurden (»Schuhkarton«) und staunt über weitere Dimensionen:
Später dann hörst du
von einer vierten Dimension:
Zeit.
Hmm. (…)
Ich mach Schluss für heute
trink ein Bier
an der Bar.
Explosionen
Klug ist die editorische Entscheidung, einige der Film-Gedichte auf den ansonsten chronologisch strukturierten Band zu verteilen. So lernen die vom Kino kommenden Leser von Anfang an auch andere Texte von Ron Padgett kennen, über den Paul Auster sagte: »Poet of heartbreaking tenderness and ever-deepening wisdom«. Im zwanzigseitigen Nachwort erläutert Röhnert u. a. die Hintergründe der »Paterson-Gedichte«, erklärt Padgetts Verbindungen zu Rolf Dieter Brinkmann und interpretiert Padgetts Poetik, insbesondere das Wörtlichnehmen figurativer Rede, die Zurschaustellung vermeintlich banaler Alltagsroutinen oder das Erheben scheinbar bedeutungsloser Handlungen zu lyrischen Sujets. Alle Gedichte Padgetts sind auch im Original abgedruckt. Da heißt es: »ready to burst into flame«. Die Zeit ist gekommen, mit diesem Buch in Brand zu geraten, wo sich doch Padgett wundert: »Komisch, dass Amerika nicht in die Luft flog, / als Whitman die ›Grashalme‹ veröffentlichte, / in die Luft flog vor Staunen und Stolz«.
Ron Padgett
Die schönsten Streichhölzer der Welt«
Englisch–Deutsch
Übersetzt, herausgegeben und mit einem Nachwort von Jan Volker Röhnert
Dieterich‘sche Verlagsbuchhandlung, Mainz 2017
Hardcover, 280 Seiten
ISBN 978-3-87162-093-5
Nicola Bardola, 1959 in Zürich geboren, veröffentlichte als Student an der Universität Bern erste Gedichte und schrieb 1984 an der Universität Zürich im Fach Germanistik seine Lizentiatsarbeit über Theorien moderner Lyrik (u. a. zu Nicolas Born, Rolf Dieter Brinkmann, Jürgen Theobaldy). Seither lebt er in München, wo er seine Kolumne »Lyrik Revue« zunächst für das Münchner BuchMagazin betreute und für die Süddeutsche Zeitung schrieb. Er veröffentlichte Gedichte in Zeitschriften und Anthologien, übersetzte Eugenio Montale ins Deutsche und war Mitbegründer der Initiative Junger Autoren (IJA).
Alle bereits erschienenen Folgen von »Lyrik-Revue« finden Sie hier.