LYRIK-REVUE FOLGE 11: PROPULSION UND WORTPFLUG, SATZSUCHE UND SATZMÜNDUNG

Auszeichnungen, Institutionen, Konferenzen, Lesungen, Poesie im Feuilleton und Lyrik-Neuerscheinungen: Nicola Bardola kommentiert und präsentiert am 20. eines Monats Bemerkenswertes aus der Welt der Verse.

 

Lyrik mit Sprachsprüngen vom Tschechischen ins Englische, mit Splittern aus anderen Idiomen und von Anfang bis Ende geschrieben wie – und manchmal wirklich – auf Klopapierrollen: Ivan Blatnýs Texte zeichnen sich durch enorme Dringlichkeit und vollkommene Unabhängigkeit aus. Er schrieb geistesgegenwärtig, assoziativ und impulsiv als Antwort auf die ihn umgebende Wirklichkeit. „There are more hiding-places in an English park / gefällte Bäume liegen dort herum / wie Masten von gekenterten Schiffen // Sie wachsen zu mit Flechten, füllen sich mit Buchstaben / und dazwischen Herzen mit oder ohne Amorpfeil.“ Man sieht ihn vor sich, Ivan Blatný: mürrisch, zusammengesunken mit einer Zigarette auf einer Parkbank, umgeben von Symbolen, Zeichen und Signalen, die sich manchmal langsam vorarbeiten in sein Sprachzentrum, die ihn manchmal überfallen, die er mal zögernd zulässt, mal automatisch in sich aufnimmt und umsetzt in Kommunikation. Umgebung: Fremd und vertraut zugleich. Sie schreit nach Worten. Sie will verstanden werden: „Schneesturmzunge“, „wir sind tot, töter, mattmüde“, „aufgerieben zwischen i und ypsilon“, „kubistische Insekten rascheln mit den Panzerdeckeln“, „es leuchten Regenbogen-Prismen / im Bett der kleinen Fetischismen“, „der Wortpflug wendet schwere Schollenblätter“.

Ivan Blatný, Foto: Vilém Reichmann
Ivan Blatný, Foto: Vilém Reichmann

Blatný liest Hrubin, Kafka, Krasko, Proust oder Tzara, antwortet ihnen aus der Ferne und posthum. In den psychiatrischen Einrichtungen, in denen er lebt, hält er sich den Alltag vom Leib und verschafft sich so Zugang zur literarischen Wirklichkeit, zu erotischen Fantasien, zur erinnerten Kindheit, zur Weltpolitik, ja zum Tagesgeschehen. Aber: „Zurück will ich auch zum Urgrund / wie ein Seekarpfen schlüpfe ich durch Wehrgitter / Satzsuche, Satzmündung, Flussbett am Sund.“ Blatný haut die Sätze raus und plötzlich kristallisiert sich das treffendste Porträt, die überragende Definition: „British may means that the statuesque ladies / will come alive“. Unbekümmert dichtet dieser Blatný, um zu unsterblichen Sätzen zu gelangen. Er wirft seine Leser hin und her, wie Weichen die Fahrgäste in Schlafwagen. Blatnýs Wahrnehmung beschert uns Wachträume in nachempfundener Umnachtung: „Was Gott macht macht er mit Bedacht“, „Thanks for the propulsion“.

 

Spazierganggedanken

In der Form eines Stumpfkegels
leuchten Lampen auch am Tage
besser wissen als sehen

Schon bald kommt das Helldunkel angeschlichen
das Chiaroscuro entdeckte Rembrandt van Rijn

Hendrikje und Saskia alle drei beisammen
besitzen zu Hause ein kleines Universum.

 

© Ivan Blatný

 

Dieses Buch ist ein solches Universum. Es ist voller kleiner und großer Gedanken, die man immerzu zitieren möchte. Die Übersetzer Jan Faktor und Annette Simon haben ein aufschlussreiches Nachwort geschrieben, das Wert auf Blatnýs Experimentierfreude legt. „Hilfsschule Bixley“ ist nach „Alte Wohnsitze“ der zweite Blatný-Band in der Edition Korrespondenzen. Möge diese verlegerische Initiative zu einer vertieften Beschäftigung mit dem phantastischen Wortspieler Blatný Junior führen. In der nach Prag zweitgrößten Stadt Tschechiens Brünn wird er 1919 als Sohn des Dichters Lev Blatný geboren. Ivan Blatný schreibt schon als Kind Gedichte und studiert tschechische und deutsche Sprache und Esperanto in Brünn. Während des Zweiten Weltkriegs lässt er sich zweimal zu seinem Schutz in die Psychiatrie einweisen. Er veröffentlicht mehrere Lyrik-Bände. 1948 reist er als Mitglied der kommunistischen Partei der Tschechoslowakei mit zwei Schriftstellerkollegen nach London, wo er die tschechische Regierung kritisiert, worauf diese ihm die Staatsangehörigkeit entzieht und sein Vermögen konfisziert. Blatný bleibt in Großbritannien und lebt aufgrund seiner psychischen Probleme bis zu seinem Tod 1990 in verschiedenen Heimen. Besucher und Pfleger ermuntern ihn, weiter zu schreiben.

 

"Hilfsschule Bixley. Gedichte" von Ivan Blatný (Coverabbildung: Edition Korrespondenzen)
Coverabbildung (Edition Korrespondenzen)

 

 

 

Ivan Blatný, Hilfsschule Bixley. Gedichte
Aus dem Tschechischen und mit einem Nachwort von Jan Faktor und Annette Simon
Deutsche Erstausgabe
240 Seiten, Hardcover, fadengeheftet, mit Lesebändchen, € 22,00
ISBN 978-3-902951-31-1
Edition Korrespondenzen, Wien 2018

 

 

 

 

Nicola Bardola. Foto: privat
Nicola Bardola. Foto: privat

Nicola Bardola, 1959 in Zürich geboren, veröffentlichte als Student an der Universität Bern erste Gedichte und schrieb 1984 an der Universität Zürich im Fach Germanistik seine Lizentiatsarbeit über Theorien moderner Lyrik (u. a. zu Nicolas Born, Rolf Dieter Brinkmann, Jürgen Theobaldy). Seither lebt er in München, wo er seine Kolumne »Lyrik Revue« zunächst für das Münchner BuchMagazin betreute und für die Süddeutsche Zeitung schrieb. Er veröffentlichte Gedichte in Zeitschriften und Anthologien, übersetzte Eugenio Montale ins Deutsche und war Mitbegründer der Initiative Junger Autoren (IJA).

Alle bereits erschienenen Folgen von »Lyrik-Revue« finden Sie hier.

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