Auszeichnungen, Institutionen, Konferenzen, Lesungen, Poesie im Feuilleton und Lyrik-Neuerscheinungen: Nicola Bardola kommentiert und präsentiert am 20. eines Monats Bemerkenswertes aus der Welt der Verse.
Mit naturnahen Bildern, mit Tiergedichten und Landschaftsimpressionen, mit surrealen Verbindungen von Vegetationselementen erzeugt Sarah Kirsch in neunzehn bisher unveröffentlichten Gedichten Stimmungen, die im Inneren der Leser Äquivalenzen evozieren. Rosa Delphine gehen vom Himmel ins Meer, unter dem Schweinwerferlid (sic!) der Soldaten strömt das Meer aus blauem Glas hervor, andernorts treibt das Meer auf Segeln und einer isst Schwalben und hat die Taschen voller Schwalbennester. Der Himmel auf tönernen Füßen, der Himmel hängt in Wolken, der Regen schont nicht, „daß Flossen mir und Schuppen wachsen“: „Wetterumschlag“ ist ein animalisches Liebesgedicht. Sarah Kirschs lyrisches Ich wird im Regen zum Fisch und später im Schnee zum Schlittenhund: „ich geh im Leder mit den anderen / und reibe mich an einem Knie / der schöne Mann liebkost nur mich“. So endet „Wetterumschlag“ mit dem Erwachen der Erzählerin. Poetische Metamorphose mündet in reale Liebkosung. Oft aber bleibt Magisches bestehen, wie in einem Mohn-Gedicht, das so beginnt: „Eine Kapsel Mohn in der Tasche / was brauchts mehr mein Seelenpferd / wiehert keilt aus schwimmt durchs Meer.“
Liebe zum Leben bestimmen den Grundton dieser Lyrikfunde aus dem Nachlass. Besonders deutlich wird das im Text „Oktober“, der ganz ohne semantische Verschiebungen offen den Fischmord anprangert. Das lyrische Ich sieht die Karpfen im Fischgeschäft, diese „lustigen breitmäuligen Fische“, sieht, wie sie erschlagen werden ähnlich wie Menschen. Auch der Fisch wird vorher verhört. Aber dann trifft ihn das Holz auf die Stirn: „noch wenn er ausgenommen ist / in Papier gewickelt / schlägt er um sich“. Darauf folgt die Oktober-Metapher: „Der Herbst hat den Sommer aufs Kreuz gelegt“. Und das Ich schimpft ungehört wie Hiob. In „Astronomie im Dezember“ zieht Sarah Kirsch ein hartes Fazit: „Und immer die verkehrten / Leute getroffen den falschen / Vers darauf gemacht keine / Einsicht gezeigt Tränen / Gelacht – Cassiopeia / Zeigt mit dem Finger auf mich.“
Rührend im Nachwort, Sohn und Herausgeber dieses Buches Moritz Kirsch: „Nachdem nun das Arbeitszimmer und der Rest des Hauses vollständig durchsucht waren, blieb nur der sehr große verwinkelte und unübersichtliche Dachboden.“ Dem Willen der Mutter folgend, hatte Moritz Kirsch zuvor alles veröffentlichen lassen, was auffindbar war und wovon sich die Dichterin sich nicht distanziert hatte. Aber Moritz‘ Suche ging weiter: Er fand DDR-Koffer, Langlaufskier, Schlittschuhe, Ersatzziegel fürs Dach und noch sehr viel mehr sehr verstaubte Gegenstände. Und dann das: ein großer Karton mit Sarahs eigenhändiger Aufschrift: „Uralt-Manuskripte. S.K.“ Darin Typoskripte mit handschriftlichen Anmerkungen, die für die Entscheidung hilfreich waren, ob man die Texte noch veröffentlichen soll. Moritz Kirsch versteht sich als „Nachlassverwalter“. Er könne, „um im DDR-Jargon zu bleiben, nur ‚ausführendes Organ‘ des Willens der Dichterin selbst sein“.
Ein Gedicht heißt „Arbeitsfreier Sonnabend“. Darüber hat Sarah Krisch notiert: „aussortiert“. Daneben hat sie zwei Grabkreuze gemacht: „Für mich die eindeutige Anweisung, dieses Gedicht niemals (!) zu veröffentlichen“, so Sohn Moritz. Aber warum hat Mutter Sarah das Blatt damals nicht zerrissen und in den Abfall gesteckt oder verbrannt? Warum hebt sie „Arbeitsfreier Sonnabend“ säuberlich im Karton „Uralt-Manuskripte. S.K.“ auf? Bei der Wortwahl „Uralt-Manuskripte. S.K.“ hatte Sarah Kirsch ja ganz offensichtlich schon viel emotionalen und zeitlichen Abstand zu den verwahrten Texten. Ich würde gerne erfahren, was Sarah Kirsch unter dem Titel „Arbeitsfreier Sonnabend“ geschrieben hat. Im Wissen, dass die Autorin selbst den Text aussortiert und mit Grabkreuzen versehen, aber eben nicht vernichtet, sondern mit Distanz immer noch sorgsam aufgehoben hat, könnte dieses Gedicht besonders lesenswert sein – ein Dokument subjektiven Scheiterns etwa. Wie viele weitere Grabkreuz-Gedichte dieser Art gibt es noch? Die Leser warten geduldig auf den Band „Aussortiert – Grabkreuzgedichte“. So oder so ähnlich hieße das Buch und die Texte wären datiert. Auch in diesem Band fehlen leider fast durchgängig Hinweise auf die Entstehungszeit. Aber andererseits erhöht das Undatierte auf seltsame Weise die Zeitlosigkeit vieler Verse in dieser neuen und gelungenen Auswahl.
Sarah Kirsch: Freie Verse. 99 Gedichte.
Mit 19 bislang unveröffentlichten Gedichten.
Manesse 2020
Hardcover mit Schutzumschlag, 128 Seiten, mit zwei Lesebändchen
20 Euro, ISBN: 978-3-7175-2506-6
Nicola Bardola, 1959 in Zürich geboren, veröffentlichte als Student an der Universität Bern erste Gedichte und schrieb 1984 an der Universität Zürich im Fach Germanistik seine Lizentiatsarbeit über Theorien moderner Lyrik (u. a. zu Nicolas Born, Rolf Dieter Brinkmann, Jürgen Theobaldy). Seither lebt er in München, wo er seine Kolumne »Lyrik Revue« zunächst für das Münchner BuchMagazin betreute und für die Süddeutsche Zeitung schrieb. Er veröffentlichte Gedichte in Zeitschriften und Anthologien, übersetzte Eugenio Montale ins Deutsche und war Mitbegründer der Initiative Junger Autoren (IJA). Zuletzt erschien von ihm „Elena Ferrante – Meine geniale Autorin“ im Reclam Verlag.
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