Auszeichnungen, Institutionen, Konferenzen, Lesungen, Poesie im Feuilleton und Lyrik-Neuerscheinungen: Nicola Bardola kommentiert und präsentiert am 20. eines Monats Bemerkenswertes aus der Welt der Verse.
Barbara Walder öffnet Perspektiven, bewegt sich rasch nach oben und nach unten und seitwärts, trennt sich vom Ich und blickt mit Abstand auf das Eigene. „Sie hat große Füße für ihre Größe.“ Walder entwirft ungewöhnliche Bilder mit wenigen Worten, die einen / ihren Körper in Beziehung zu Landschaften mit Krähen, in Beziehung zu Wüsten stellen. „Fest stehen die Füße. Sie wurzeln nicht“, schreibt Walder im Prolog. Der Ton ist bedrohlich-düster, schwarz der Himmel, das Eigene, das sich freigiebig den Vögeln darbietet, die es sich einverleiben werden. Aus dieser poetischen Spannung heraus entwickelt sich die stark rhythmisierte Geschichte: „Gefragt wurde sie nicht“, heißt es variantenreich zu Beginn.
Musikalisch-grammatikalische Vollkommenheit
Die erste Szene spielt in einer Buchhandlung, nostalgisch-romantisch mit Bänden „dicht an dicht“. Draußen ist es kalt, Winter. Nina steht hinter der Kasse. Die Besucherin / Beobachterin ist unsicher und sprachkritisch, zweifelnd, prüfend und wütend. Und um Haltung bemüht. Um Aufrechterhaltung des Eigenen. Da betritt ein Mann, „der Bärtige“, zielsicher das Sortiment. Walder schildert ihn distanziert. Er ist der Besucherin entgegengesetzt. Und alles ereignet sich in diesem Buchstabenraum, auch weiterhin: „Die Wortzeichen lösen sich von den Konventionen. Flottieren frei“, schreibt Walder. Ihr Schreiben steht ständig in Beziehung zu ihrer Figur, die versucht zu lesen, versucht zu verstehen. Walder bricht oft mitten im Satz ab. Wir LeserInnen ergänzen: „Als ob sie nicht wüsste dass“. Diese Vollbremsungen sind eines von Walders Stilmitteln, die sie aber durch vielzeilige Perioden in musikalisch-grammatikalischer Vollkommenheit melodiös kontrastiert, wie bei der Erinnerung daran, wie die Figur / das Eigene als Kind die Schuhe eines anderen bindet. Immer wieder tauchen wohlgeformte Erinnerungen in der disparaten Gegenwart auf.
Lautbündel und Wortbauteile
Realitätsebenen schieben sich ineinander: Das alltägliche Gespräch („monströse Selbstverständlichkeit“), dem sie (das eigene Erwachsene) gewachsen scheint. Doch da ist die starke Innensicht, die Walders Text bestimmt. Wir LeserInnen ahnen en passant das allzu Bekannte und vertiefen uns umso leidenschaftlicher in dieses „Eigene“, dieses Unbekannte und in diese Weise der (Nicht-) Kommunikation, „ziellos. Doch immer treffsicher“. Die Buchhandlung füllt sich. Eine Frau im Wollmantel betritt die Bücherstube. Später kommen Kinder herein. Der Bart liest konzentriert. Der Bart hat trotzdem Blickkontakt zum Wollmantel. Dem Eigenen wird es zu eng. Fluchtgedanken über „eierschalendünnem Boden“. Die Begriffe in der Buchhandlung: „Gedankensilben“, „Lautbündel“, „Wortbauteile“ oder „Spottfraß“.
Zusammenhänge eine Frage der Unverfrorenheit
Sie verlässt die Buchhandlung mit zwei Büchern. Die Straßenszenen bleiben ebenso konzentriert wie im Laden, weil das Eigene sieht: „Ihre Gesichter eingebrannt. Ein Fluch ist das. Fortwährend ein weiteres Exemplar Mensch“. Und diese Bilder der Menschen dringen durch die Augen zu ihr hinein. Ungebeten. Sie besetzen die vordersten Logen, als ob sie dorthin gehörten. Sie geht, sie schreitet. In Gedanken bis nach Tasmanien. Es dunkelt. Sie steigt in die Straßenbahn. Die Beschreibungen sind hochkonzentriert. Sie geht nicht nach Hause, sondern in eine Kino-Bar. Die Stimmung aus der Buchhandlung setzt sich fort: „Ist dies die Wirklichkeit? Und was ihr Teil?“. Wortlose Kontaktaufnahme zu einem Bartlosen. Der poetische Road-Trip zu Fuß geht weiter: „Sie folgt sich mit den Blicken der anderen“. Unterschiedslos. Nichtig. Die eigene Bedeutung im öffentlichen Raum hinterfragend. Hinein in den Kinosaal. Der Film ist voller verbrauchter Sätze und Bilder. Zuhause das Buch, Per Olov Enquists anderes Leben. Ein kleines Verstehen. Später wieder via Kunst: „Die Füße stehen. Wie bei Giacomettis Figuren deren Füße groß und dick. Fest. Während nach oben hin …“. Und „vogelfrei das Ich“ und „Zusammenhänge eine Frage der Unverfrorenheit“. Da und dort sagt Walder es derb: „Menschsein. Ha. Ein verfickter Irrtum“ oder „Interessiert sie einen Scheiß. Sein Getue“. Nur wenige Helvetismen hin und wieder, der Randstein, das Ricola-Zältli. „Nicht gefragt worden sein“, zieht sich als roter Faden durch den Text. LeserInnen spekulieren: Wer hat nicht gefragt: Nina, die Buchhändlerin, der Bärtige, jemand in der Kindheit?
Auf Worten tanzen
Die Wahrnehmung der sich fragmentierenden Wirklichkeit bleibt scharf, ja, verschärft sich gegen Ende: „Zwi.schen. den. Flo.cken. die. Be.deu.tung. er.kannt. Ge.ra.de. noch.“ Diese nur achtzigseitige nachhaltige Infragestellung von Normalität ist ein unheimlich präzises und sprachmächtiges Langgedicht- (oder Roman-)Debüt in einer packenden Atmosphäre umfassender Unsicherheit: Walders Worte selbst sind „Stolpersteine im Konturlosen“. Die Krähen konzentrieren sich zum Schluss auf einen Motorradunfall draußen. Sie, das Eigene ist drinnen, in der Bibliothek: „Ein Luftzug streift ihre Stirn die Tür war kurz offen jemand ging raus oder rein.“ Im Epilog schreibt Walder: „Nein, sie wurde nicht gefragt, weder zu Beginn noch vorher. Auch nachher nicht.“ Und schließlich ein Bekenntnis oder eine Quintessenz: „Auf Worten tanzen als ob es das Einzige sei. Was je zu tun.“
Barbara Walder wurde 1968 in Zürich geboren, wuchs dort und in der Umgebung auf, lebte als Bäuerin und studierte Germanistik und Geschichte an der Universität Zürich. Sie schreibt, fotografiert und arbeitet als Lektorin. Ihre Webseite mit weiteren Texten und Fotografien: www.möglichkeitssinn.ch
Barbara Walder
Und die Füße weit unten. Ein Langgedicht
Songdog Verlag 2020. 84 Seiten, Broschur
Euro 18,00. ISBN: 978-3-903349-00-1
Nicola Bardola, 1959 in Zürich geboren, veröffentlichte als Student an der Universität Bern erste Gedichte und schrieb 1984 an der Universität Zürich im Fach Germanistik seine Lizentiatsarbeit über Theorien moderner Lyrik (u. a. zu Nicolas Born, Rolf Dieter Brinkmann, Jürgen Theobaldy). Seither lebt er in München, wo er seine Kolumne »Lyrik Revue« zunächst für das Münchner BuchMagazin betreute und für die Süddeutsche Zeitung schrieb. Er veröffentlichte Gedichte in Zeitschriften und Anthologien, übersetzte Eugenio Montale ins Deutsche und war Mitbegründer der Initiative Junger Autoren (IJA). Zuletzt erschien von ihm „Elena Ferrante – Meine geniale Autorin“ im Reclam Verlag.
Alle bereits erschienenen Folgen von »Lyrik-Revue« finden Sie hier.