Literatur ist vergänglich, trotz ihrer Materialität. Denn allmählich entschwinden Bücher in Archivbibliotheken und verlassen unseren Erfahrungshorizont. David Westphal möchte in Nachfolge an die Kolumne »Wiedergelesen« dagegen anschreiben. Er stellt an jedem 15. des Monats Vergessenes und Neugelesenes in seiner Rubrik »Neugelesen« vor (in memoriam Erich Jooß, † 2017).
Da ist ein Mensch. Dieser Mensch sammelt. Was er sammelt, ist gleich. In den Augen des Sammlers und der Sammlerin ist alles des Sammelns würdig. Manchmal noch ist das Sammeln Teil der Selbsterhaltung, wie dies bei Pilz- und Beerensammlerinnen der Fall ist; manchmal kippt das Sammeln aber auch in einen pathologischen Zustand der Selbstüberfrachtung. Jedenfalls changiert die Tätigkeit des Sammelns immer zwischen Passion und Obsession, zwischen Leid und Zwang und Lust.
Was haben Collorio/Krüger in ihrer Poets‘ Collection versammelt? Gedichte von Lyrikerinnen und Lyrikern. Das klingt so trivial wie dass in einer Kunstausstellung Bilder hängen. Gedichte sammeln, das geht mittlerweile ohne großen Aufwand aus dem Homeoffice mit dem Laptop. Beginnen wir mit ein paar Fakten: 94 englischsprachige Autorinnen und Autoren in 192 Gedichten, Originalton, inklusive ihrer Übersetzungen, gesprochen zum Teil von den Übersetzerinnen und Übersetzern oder professionellen SprecherInnen; knapp 15 Stunden Tonmaterial.
Kurze Sprechpause für die Dramatik.
Hören Sie nun innerlich und zur Verinnerlichung ein weiteres Mal alle genannten Fakten mit Ausrufungszeichen.
Allein eine langweilige Auflistung aller Original-Autorenbeiträge und die der hochkarätigen ÜbersetzerInnen und SprecherInnen lässt Poetophilen die Ohren schlackern, ohne noch je einmal hineingehört zu haben. Warum? Seit ca. 1890 sind viele große Namen aus den vorkolonial englischsprachigen Ländern vertreten. Sie wurden in mühsamer und langjähriger Arbeit aus Archiven und Nachlässen zusammengetragen und professionell aufbereitet. Jetzt ist es eine wahrliche Sammlung lyrischer Klänge. Die wenigsten werden ihre Lieblingsdichterinnen und -dichter schon einmal sprechen gehört haben, dabei ist es doch gerade die Lyrik, die gehört werden will und nun auch in besonderen Zeitdokumenten gehört werden kann.
Und dann tritt ein Name in mein Gesichtsfeld: Walt Whitman. Ist der nicht irgendwann vor 1820 geboren? (Genau: 1819.) Wann gab es die ersten Tonbandaufnahmen denn überhaupt? Tatsächlich wurde Whitman von Thomas Edison persönlich um 1890 mit einem seiner ersten Aufnahmegeräte festgehalten. Genau genommen war es aber kein Tonbandgerät, sondern eine Wachsrolle, in die die Tonspuren geritzt wurden. Eine Faszination für sich! – denn verstehen tut man da eigentlich nichts. Aber es ist ein bewegendes Stück Zeit-, Technik- und Literaturgeschichte! Und davon findet sich viel! Wie auch etwa „Howl“ von Ginsberg, ein Schlüsseltext der Beat-Generation, und James Joyces Gedicht aus „Finnegan‘s Wake“, und dieses und jenes und überhaupt … ach …
Es ist schwierig: je größer die Sammlung, desto unkonkreter die Aussagen. Und so ist es auch hier: zu umfangreich, um wirklich Gehaltvolles in Kürze darüber zu sagen; aber zu großartig, um sie nicht anzuhören! Jeder Beitrag hätte mindestens eine eigene Textseite verdient – freilich viel mehr als das – und schon wäre es eine eigene, mindestens einhundertzweiundneunzigseitige Rubrik für DasGedichtBlog. Zu den CDs ist noch ein Begleitbüchlein mit den Kurzbiographien aller Sprechenden. Gewiss nicht erschöpfend, aber eine gute Orientierung zu Beginn. Ich hätte mir durchaus ein ausgewachsenes Begleitbuch mit allen Gedichten und ihren Übersetzungen nebst ausführlicher Biographien gewünscht, um gerade bei den alten Aufnahmen die Originaltexte mitlesen zu können, und ihren Autoren und Autorinnen im selben Zug noch näher zu kommen; aber viel wichtiger ist nur eines: Könnte der Verlag bitte so eine Collection für jedes Land dieser Erde herausgeben? Ich würde sie leidenschaftlich gern sammeln.
Collorio, Christiane; Krüger, Michael (Hg.)
The Poets‘ Collection. Englischsprachige Lyrik im Originalton und in deutscher Übersetzung
der Hörverlag, 2018
13 CDs, Laufzeit: 14 h 44
ISBN: 978-3-8445-2141-2
David Westphal, geboren 1989 in München, wo er auch lebt. Studium der Philosophie, Germanistik, Literatur- und Kulturtheorie zu Gießen und Tübingen. Gedichtveröffentlichungen in verschiedenen Anthologien.
Alle bereits erschienenen Folgen von »Neugelesen« finden Sie hier.