Gedichte für Kinder – Folge 70: Sechs Kindergedichte in Vallader und Deutsch von Leta Semadeni

Uwe-Michael Gutzschhahn präsentiert jeweils am 10. eines Monats auf DAS GEDICHT blog faszinierende Kindergedicht-Autoren mit ihren vielfältigen Spielarten der Kinderpoesie. Denn das Kindergedicht soll lebendig bleiben – damit aus jungen Gedichtlesern neugierige Erwachsene werden, die sich an die Klänge und Bilder der Poesie erinnern, statt an die Last der didaktischen Lyrikinterpretation.

 

Winter am Inn

Am Ufer
sitzt ein Engel
schält einen Apfel
hüpft über die Kälte
hinweg das Eis schlägt
mit den Flügeln

 

 

 

Gaudium

Our d’ün ögl
es sigli in passond
ün güvel
aint in
mi‘uraglia

Eu chamin in tact
tras il di
e m’insömg
da not:

Co cha la chavlüra
dal vent
chatscha
meis güvel
tras las giassas

 

Gaudium

Aus einem Auge
ist beiläufig
ein Jauchzer
in mein Ohr
gesprungen

Ich laufe im Takt
durch den Tag
und träume
nachts:

Wie die Mähne
des Windes
meinen Jauchzer
durch die Gassen
treibt

 

 

Not a Giarsun

La not
es spür valü
Il flüm
ün pesch d’argient
Aint il ruschè
tschüf eu la glüna
e’m giovaint cun chürallas
cur cha’ls pins
ravaschan i’l vent

 

 

 

 

 

 

Nacht in Giarsun

Samten
ist die Nacht
Der Fluss
ein Silberfisch
Im Tau halt ich
den Mond gefangen
und spiele mit Faltern
wenn die Tannen
sich wiegen im Wind

 

 

Scriver poesias

Mincha pled
na tschernü
sbraja

Mincha pled
sbüttà
sbraja

Mincha pled
chi resta
cloma

A quels na tschernüts
A quels sbüttats

E tuot ils pleds
Paisan
Listess

 

Gedichte schreiben

Jedes Wort
das nicht gewählt wird
schreit

Jedes Wort
das verworfen wird
schreit

Jedes Wort
das bleibt
ruft

Nach den nicht gewählten
Nach den verworfenen

Und alle Wörter
wiegen
gleich schwer

 

 

Vuolp da cità

Mincha not maglia
la vuolp il rest
dal di pulischa
la coppa sgiazza
vi da mia sön glischa
sco ün spejel

 

Stadtfüchsin

Jede Nacht frisst
die Füchsin den Rest
des Tages putzt
die Schüssel scharrt
an meinem blanken
Schlaf

 

 

An die Pelztasse
Meret Oppenheim und ihrer Pelztasse gewidmet*

Heut hab ich in die Tasse von Meret
die andern lagen alle noch im Bett
zum ersten Mal Kaffee gegossen

Mit Milch und Zucker hab ich ihn genossen

Doch kurz darauf da dacht ich mir:
Mein Mund ist pelzig wie ein Tier
Mein Mund verflixt gehört nicht mir!

Da ist er reingepurzelt in die Tasse
und ist verschwunden
in
der
Pelzmasse

 

*Die Pelztasse der Künstlerin Meret Oppenheim könnt ihr anschauen hier

 

 

© Leta Semadeni

 

Leta Semadeni wurde in Scuol im Engadin, einem Tal in der Ostschweiz, geboren. Heute lebt sie in Lavin, das auch im Engadin liegt. Dort spricht man Deutsch und Rätoromanisch. Und so schreibt Leta Semadeni seit jeher die meisten ihrer Gedichte zweisprachig. Manchmal beginnt sie die Arbeit an einem Text in der einen, manchmal in der anderen Sprache. „Dann folgt ein Wechselspiel zwischen den beiden Sprachen, das heißt, sie arbeitet gleichzeitig an beiden Versionen“, heißt es in einem Nachwort zu ihrem jüngsten Gedichtband „Tulpen/Tulipanas“, der 2019 erschien und in diesem Jahr mit dem Josef-Guggenmos-Preis für Kinderlyrik ausgezeichnet wurde. Bis heute hat sie sieben Gedichtbände, einen Roman und zwei Kinderbücher in der Schweiz veröffentlicht. Zum Gedichteschreiben für Kinder sagt sie: „Ich muss gestehen, dass ich bewusst gar nie für Kinder geschrieben habe. Auch die Gedichte in ‚Tulpen-Tulipanas‘ sind nicht speziell an Kinder gerichtet. Es hat aber in dem Bändchen einige, die ich selber als 17- oder 18-jährige geschrieben habe! Und dafür habe ich damals nur Prügel bekommen! Ich empfinde eine kleine, helle Schadenfreude darüber, dass die Texte jetzt gut ankommen.“

 

Uwe-Michael Gutzschhahn

 

 

Uwe-Michael Gutzschhahn. Foto: Volker Derlath
Uwe-Michael Gutzschhahn. Foto: Volker Derlath

Uwe-Michael Gutzschhahn, Jg. 1952, lebt in München und hat an der Universität Bochum über den Lyriker Christoph Meckel promoviert. Seit 1978 hat er zahlreiche eigene Gedichtbände veröffentlicht, u. a. »Fahrradklingel« (1979), »Das Leichtsein verlieren« (1982), »Der Alltag des Fortschritts« (1996) und »Die Muße der Mäuse« (2018). Zwischen 1988 und 1991 gab er die 12-bändige Kinder-Taschenbuchreihe »RTB Gedichte« mit Texten u. a. von Ernst Jandl, Oskar Pastior, Friederike Mayröcker und Sarah Kirsch heraus. 2003 folgte die Anthologie »Ich liebe dich wie Apfelmus«, die er mit Amelie Fried zusammenstellte und die gerade in einer Neuausgabe wiederaufgelegt wurde. Sein erster eigener Kindergedichtband folgte 2012 unter dem Titel »Unsinn lässt grüßen«. Und im Herbst 2015 erschien seine große Nonsenslyrik-Anthologie »Ununterbrochen schwimmt im Meer der Hinundhering hin und her«, im Frühjahr 2018 die Anthologie »Sieben Ziegen fliegen durch die Nacht« bei dtv Junior, die aus der Reihe »Gedichte für Kinder« hervorgegangen ist.

Alle bereits erschienenen Folgen von »Gedichte für Kinder« finden Sie hier.

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