Zwischen Revolutionskantaten und Dancefloor-Versen
Wieder einmal stellt sich heraus, wie wichtig doch der Titel für einen Gedichtband ist. Oft genug entscheidet – wie bei einem Albumcover auch – der Titel über den Kauf. Dabei gibt es verschiedene Möglichkeiten der Ansprache. Der Titel kann flirrend sein, träumerisch, von geradezu somnambuler Schwerelosigkeit, und zum Weiterspinnen inspirieren. Aber er kann auch von spröder Nüchternheit geprägt sein, von buchhalterischer Präzision und zum genauen Hinschauen führen. Der neue Gedichtband von Linda Vilhjálmsdóttir gehört eindeutig der letzteren Kategorie an. Er heißt „das kleingedruckte“, ein Titel, der aufmerken lässt. Denn im Kleingedruckten steht zumeist das Wichtige. Würde man das zuspitzen und die Beziehung zwischen Poet und Leser als Vertrag betrachten (was vielleicht häufiger der Fall sein sollte), so ist „das kleingedruckte“ eine faszinierende Aufforderung, doch mal in den versteckten Klauseln dieser Verse zu lesen. Übrigens: Der Titel wurde kongenial ins Optische übersetzt, Autorin und Titel sind auf dem Buchcover sinnigerweise in ein Motiv von zwei Lupen gefasst, das runde Lupenglas wurde durch Stanzlöcher ersetzt, die dem Titel eine haptische Tiefe verleihen. Der Elif-Verlag legt augenscheinlich viel Wert auf ein auch visuell ansprechendes Programm.
Der Qualitätsanspruch zeigt sich aber vor allem in der Übertragung aus dem Isländischen. Die Gedichte der 1958 geborenen Linda Vilhjálmsdóttir wurden einmal mehr vom Übersetzer-Team Jón Thor Gíslason und Wolfgang Schiffer ins Deutsche übertragen, die hier mittlerweile ihr fünftes gemeinsames Projekt für den Elif-Verlag realisieren. Auch ohne der isländischen Sprache mächtig zu sein, spürt man als Leser in der deutschen Version die Feingliedrigkeit, das Wertlegen auf Nuancen und Präzision in jedem Vers. Doch nun endlich zu den Gedichten. Es ist ein Band, der ein ganzes Kaleidoskop weiblicher Selbstbehauptung, Selbstdarstellung und Selbstermächtigung entwirft und dabei die Facetten des Alltags ebenso beleuchtet wie den programmatischen Willen zur Veränderung. Das gelingt oft genug innerhalb eines einzigen Gedichts, wenn im Trivialen das Bedeutende aufleuchtet: „selten/ so abseits im eigenen leben // als wenn ich in frauenzeitschriften blätterte / im frisiersalon und beim zahnarzt im wartezimmer“. Das ist eine klare Positionierung außerhalb gängiger Frauenbildklischees. Ihre Poesie hat fast immer starke autobiographische Bezüge; wenn Linda Vilhjálmsdóttir „Ich“ sagt, meint sie „Ich“. Ihre Gedichte vermitteln eine gewisse Robustheit und Toughness, obwohl sie ziemlich zu Beginn des Bandes – wie, um diese Lesart zu entkräften – ein poetisches Glaubensbekenntnis ablegt: „das solltest du wissen/ lieber leser / dass ich im geist tausend mal tausend/ bittersüße gedichte geschrieben habe // um ein für alle / mal zu beweisen / dass ich eine ziemlich gute dichterin bin //“. Ist das heutige gesunde Selbstbewusstsein also das Ergebnis jahrelanger Fronarbeit beim Herstellen zahlloser romantisch überzuckerter Poeme?
Eine etwas gewagte Interpretation, zweifellos. Was an den zugänglichen, nie artifiziellen Gedichten von Linda Vilhjálmsdóttir aber deutlich wird, dass es Generationen beharrlicher Arbeit und im wahrsten Sinne des Wortes einen sehr langen Atem braucht, um die Stimmen von Frauen gesellschaftlich unüberhörbar zu machen. Diese generationsübergreifende Aufgabe zeigt sich besonders im vierten Kapitel des Bandes, wo die Dichterin den Generationen ihrer Vorfahrinnen den nötigen Respekt abstattet: „bevor aber das jahrhundert zur hälfte vorüber ist / werden die finger und die vorgereckten kinnspitzen / unserer vorfahrinnen // wie / wegweiser oder steinwarten / aus den schmelzenden gletschern ragen //“. Die Profile der Vorkämpferinnen als Orientierungsmarken für den Kampf der kommenden Generationen gegen die Unterdrückung und das Stummmachen von Frauen. Und auch diese Generationen hat Linda Vilhjálmsdóttir mit dem programmatischsten Gedicht ihres Bandes längst im Blick: „nun füllen die jungen mädchen ihre lungen mit luft / und entfachen die glut / die am schmerzvollsten brannte // da ist es an der zeit / dass auch wir die anderen tief einatmen / und langsam wieder ausatmen // immer und immer wieder / bis unsere eigene unterdrückte stimme / teil hat an der revolutionskantate der haremsfrauen //“. Das Großartige im Kleingedruckten: Es lohnt sich wirklich, diesem Gesang zu lauschen.
Eben noch „das kleingedruckte“, nun „lieder an das große nichts“, so der Titel von Juliane Lieberts Debüt-Gedichtband. Ein Titel mit existenzialistischer Wucht, mit einem geradezu baalhaften nihilistischen Gestus, einer lässigen Gebärde, die große Worte nicht scheut. Er erinnert ein wenig an Peter Lichts Albumtitel „Lieder vom Ende des Kapitalismus“, auch hier schimmert der Brecht’sche Duktus durch. Dabei hat Juliane Liebert, im Wendejahr 1989 in Halle/Saale geboren, das titelgebende Gedicht in der dunkelsten Stunde der Nacht angesiedelt und die Sehnsucht des lyrischen Ich klammert sich eher an banale Dinge: „ich hätte lieber kippen, ich hätte lieber kippen / als alles andere auf der welt“. Tatsächlich haftet dem Gedicht etwas Liedhaftes an, wenig später heißt es: „was weiß ich, woran man noch glauben kann?/ die große verzweiflung hat mich …“. Ja, es sind existenzialistische Nöte, die alle Bereiche umfassen und am Ende stimmt das Poem wieder in den Refrain ein: „ich hätte lieber kippen als alles andere auf der welt“.
Neben Liedgut wie diesem halten die Gedichte von Juliane Liebert eine große Zahl aufregender Begegnungen mit Persönlichkeiten bereit: Wir begegnen etwa dem russischen Schriftsteller Nikolai Gogol im „sargstakkato“ (zur Erklärung: Man fand Gogol einst anlässlich einer Umbettung völlig verkrümmt in seinem Sarg liegen und vermutete, dass er noch lebte, als er beerdigt wurde.), wir treffen Marianne Faithfull bei einem Interview in einem Pariser Hotel, die „pelzteppichmuse der rolling stones“ hat sich die Hand gebrochen, möchte aber noch eine rauchen, bevor es ins Krankenhaus geht. So geht es munter weiter. Wir begegnen Sockendandys, Partymädchen, Rotkäppchen und Battlerappern. Gerade letztere haben in dem Gedicht „na einer muss ja auch die battlerapper trösten“ einen sehr schönen Auftritt, „wenn sie in tränen aufgelöst in ihren jaguaren / kauern […] die messer haben das stechen satt“ – dieses beeindruckende Bild bleibt haften. Ansonsten durchzieht leichter Spott das milde Mitleid mit den heulenden Machos in ihren Luxuskarossen. Noch aufregender allerdings als die Begegnung mit dem Personal solcher Poesie ist die flockige Komposition des Gedichtbandes, die aus sage und schreibe 11 Kapiteln mit je 3−5 Gedichten besteht.
Die Gedichte und Kapitel tragen fulminante Titel wie „dies ist kein zirkus, dies ist eine globenfabrik“, „wer für den strick geboren ist, kann im wasser nicht umkommen“ oder „ode an deine superweichen schamhaare“, Titel, die neugierig machen und auf die man im Zweifelsfall selbst gern gekommen wäre. Aber nicht immer lösen die Gedichte das ein, was die Titel versprechen. Letzteres Gedicht besteht fast ausschließlich aus schwarzen Zensurbalken, ein banaler Effekt, als seien dem Gedicht nach dem Finden des originellen Titels die Ideen ausgegangen. Vielleicht liegt es daran, dass einige Poeme zu viel vom süßen Gift der Disruption genascht haben, eine aktuelle Sucht, die von spontaner Intuition und fraktaler Wahrnehmung lebt, aber wo oft ein Vers oder Satz keine Verantwortung für den darauffolgenden übernimmt. Und dann kommt aber wieder ein fulminantes Gedicht wie „badamm badamm“, das offenbar vom Sterben der Mutter handelt, aber indem der Titel den Herzschlag lautlich übersetzt, programmatisch den Beat vorgibt, zu dem sich viele dieser Gedichte bewegen – mit flirrendem Pop-Appeal auf dem Dancefloor der Zeitgenossenschaft. Skepsis beiseite: Es überwiegen Staunen und Faszination bei diesen jungen, erfrischend unkonventionellen Gedichten: „der laut ist zu verstehen als erschütterte luft“ – genau so!
Linda Vilhjálmsdóttir
das kleingedruckte
Elif Verlag, 120 S., 20 €
Juliane Liebert
lieder an das große nichts
Suhrkamp, 88 S., 18 €
Hellmuth Opitz