Eingestreute Kritik: Unter dem Radar – fünf kaum besprochene neue Gedichtbände, die ich 2021 gerne gelesen habe

ein lyrischer Leserjahresrückblick von Hellmuth Opitz

Was Lyrik angeht, kann man als aufmerksamer Beobachter schon berechtigte Zweifel an der Wahrnehmungssensorik des deutschen Feuilletons haben. Da werden Lieblingsspielwiesen, wie Kookbooks, Elif-Verlag, vielleicht noch der Poetenladen und einige etablierte Verlage, gerne nach Neuerscheinungen abgegrast – es gibt da ja, das sei gern zugegeben, auch durchaus sehr gute Gedichtbände. Die neuen Bände von Birgit Kreipe, Martina Hefter und Christoph Danne seien hier beispielhaft genannt. Doch der Blick bleibt eng.

Was die Gründe für die derart einseitige Aufmerksamkeit der Lyrikkritik sind, lässt sich nur vermuten: Naturtrübe Blindheit, Scheuklappen oder schlichtweg quantitative Überforderung mögen eine Rolle spielen. Vielleicht liegt’s aber auch an der trefflichen Lobbyarbeit der Verleger oben genannter Verlage. Wie dem auch sei, auch abseits dieser etwas ausgetretenen publizistischen Pfade gibt es lohnenswerte Entdeckungen, die aber leider im Windschatten der Feuilleton-Wahrnehmung ihr Dasein fristen müssen. Einige dieser poetischen Nachtschattengewächse seien deshalb hier kurz ans Licht geholt.

Ludwig Steinherr besticht durch inspirierte Sprachbilder und Universalbildung

Kurz vor Jahresende erreichte mich der neue Gedichtband von Ludwig Steinherr mit dem Titel »Zur Geburt einer Ming-Vase«. Nach Steinherr kann man in den letzten Jahren fast die Uhr stellen. Zum Herbst hin erscheint zuverlässig und pünktlich ein neuer Band. Wer nun glaubt, diese Produktivität müsse irgendwann zu Lasten der Qualität gehen, darf sich gern vom Gegenteil überzeugen: In jedem Band finden sich Gedichte, die man sich hinter den Spiegel stecken möchte, um täglich daran erinnert zu werden, welche Qualität möglich ist. Die Gedichte speisen sich aus Universalbildung, inspirierten Sprachbildern, wie »die schöne Trauerweide auf dem Parkplatz / die sich nachts heimlich ritzt« und nicht zuletzt dem Gespür für verblüffende Parallelen. Wann hat jemand schon die eigene Tochter mit einer Ming-Vase verglichen? Was zunächst so klingt, wie die distanzierte Anpreisung einer Kostbarkeit, entpuppt sich als die Sorge eines Vaters, der die Tochter möglichst ohne Sprünge und Absplitterungen durch Kindheit und Jugend bringen will und dabei oft an die Grenzen gerät: »Da läufst du, Blut schwitzend / während die Vase auf dem Sattel / schlackert / und der Bordstein drohend grinst –«. 

Augenzwinkernder Humor schwingt bei Steinherr immer mit, ein oft unterschätzter Aspekt seiner Lyrik. Mein Lieblingsgedicht ist besonders davon geprägt, es heißt »All diese leeren Hotels« und beschreibt die in der Corona-Pandemie leerstehenden Herbergen, die in diesen Lockdown-Zeiten nur zwei Bewohner hatten: Licht und Stille. Wie Steinherr diese Idee weiterspinnt, ist grandios: »Licht und Stille / haben alle Zimmer für sich / Sie schlafen bis in den Mittag // Sie lieben sich nach Lust und Laune in allen leeren Betten / und bringen nicht einmal / die Laken durcheinander“. So heißt es da, und zum Schluss geht einer der beiden sogar für einen kurzen Seitensprung fremd. Wer, sei hier nicht verraten. Es selbst zu lesen, lohnt sich auf alle Fälle! (Ludwig Steinherr: Zur Geburt einer Ming-Vase, Lyrik Edition 2000, Allitera Verlag, 170 S.)

In die Welt schauen mit Klára Hůrková – jüngster Gedichtband ein wahres Schmuckstück

Um Licht geht es auch im Titel des aktuellen Gedichtbandes von Klára Hůrková: »Licht in der Manteltasche« heißt er und ist eigentlich schon im letzten Jahr erschienen, ich habe ihn aber erst in diesem Jahr entdeckt und gelesen. Knapp vier Dutzend Gedichte, übersichtlich auf 76 Seiten verteilt, in einem handlichen Format und sehr schön farbenfroh gestaltet. Ein wahres Schmuckstück. Einziges kleines Manko: Dass jede Seite noch zusätzlich mit einer Hintergrund-Illustration versehen ist, musste nicht sein, wirkt etwas overdone in Sachen optischer Ornamentik. Die Gedichte selbst haben das eigentlich auch nicht nötig, sie sind bilderreich genug. Das erste Kapitel umfasst Gedichte, die an unterschiedlichsten Welt-Schauplätzen spielen und sind unter der in Zeiten von Corona besonders relevanten Kapitel-Überschrift »Als wir noch reisten« zusammengefasst. Reisegedichte unterliegen ja oft der Gefahr, nichts weiter als lyrische Postkarten zu sein. Klára Hurková umgeht diese Gefahr, in dem sie ihre Gedichte nicht mit genretypischen Sehenswürdigkeiten ausstattet, sondern Momente einfängt und ihre Eindrücke in Sprachbilder fasst, die diesen Moment blitzartig erhellen und einmalig machen. Besonders eindrücklich sind hier die New-York-Gedichte. Das »Guggenheim« betitelte Gedicht widmet sich der spiralförmigen Architektur des Museums: »Komm in mein Inneres / Entdecke das / Schneckenhaus / ohne Ende« heißt es dort, und das lyrische Ich fragt sich, weshalb diese innere Unruhe bei Betrachtung der Kunstwerke entsteht. Schließlich festigt sich eine Vermutung: »Vielleicht weil tagsüber / hier einer auf der weißen Bank / sitzt und Gedichte schreibt / ohne Ende.« Eine faszinierende Parallele.

Auch harten Realitäten gewinnt Klára Hůrková poetische Momente ab, wie etwa in dem Gedicht »Die Prostituierten«. Mein Lieblingsgedicht in diesem Band ist aber eines, wo sich das Thema, der Gegenstand, die aktuelle Begebenheit weigert, zum Motiv eines Gedichtes zu werden. Es geht um das Attentat seinerzeit auf den Weihnachtsmarkt auf dem Berliner Breitscheid-Platz. Im Gedicht »Ein misslungenes Gespräch« heißt es: »Heute Nacht regnete es / im geschockten Land […] ich versuchte / es einem Gedicht zu erzählen / aber es hörte mir nicht zu“. Für Leser lohnt es sich aber allemal, den Gedichten von Klára Hurková zuzuhören. (Klára Hůrková: Licht in der Manteltasche, Chili-Verlag, 76 S.)

Feine Alltagswahrnehmungen überführt Holger Küls in bodenständige Poesie

Der Himmel im Norden ist groß und weit. Automatisch schiebt er sich in den Vordergrund, deshalb haben die Leute da oben immer ein Auge drauf. Wind und Wolkenschiebung ändern sich schnell, und aufpassen sollte man immer. Besonders wenn das Wetter aus Nordwest kommt und Tiefdruck in Form von Sturm und Fluten mit sich bringt. Aufpassen heißt es auch beim Gedichtband von Holger Küls, ist er doch »Kumulus aus Nordwest« betitelt: Allein schon der meteorologische Begriff für eine bestimmte Wolkenformation steht dafür, dass der Poet aus dem niedersächsischen Verden an der Aller seine Aufmerksamkeit auch nach oben richtet. Vielleicht stimmt angesichts dieser Poesie auch die Gleichung: Je flüchtiger der Himmel, desto bodenständiger die Gedichte. Denn der Fokus des Blicks von Holger Küls richtet sich auf die alltäglichen Dinge, scheinbare Banalitäten, wie z. B. den Kreisverkehr vor dem Finanzamt, der den Dichter zu Überlegungen dazu veranlasst, wie die Verkehrsströme des Geldes hinter der nur scheinbar transparenten Glasfassade des Gebäudes wohl gelenkt werden.

Ein weiteres Beispiel für die feine Alltagswahrnehmung von Küls ist das Gedicht »Parkplatz«, das die ernüchternde Atmosphäre eines Supermarktplatzes beschreibt – um dann in den letzten drei Versen mit einem Mal ein Stück unverhoffte Sehnsucht zu entfalten: »Am Boden Reste von Schnee / und ein durchnässter / Traum von den Kanaren.« So kann man den zertretenen Prospekt eines Reisebüros auch poetisch in Szene setzen. Ähnlich subtil die Liebesgedichte, zarte Pastiches, etwa über das Vermissen wie in dem Gedicht »In der Küche«. Dort heißt es: »Aus Gewohnheit / zwei Tassen hingestellt, während ich in den Flur schau / wo deine Schuhe fehlen.« Im Nachwort des Bandes schreibt Hans-Georg Bulla, die Gedichte von Holger Küls seien eine Navigationshilfe »beim Zurechtfinden in der Welt«. Man möchte ergänzen: Diese Gedichte sind eine Schule des genauen Hinsehens. (Holger Küls: Kumulus aus Nordwest, Geest-Verlag, 96 S.)

Weisheit, Gelassenheit, aphoristische Kürze kennzeichnen Siegfried Völlgers Gedichte

»Pilzfreund Bielers Posaune« hat der in Augsburg lebende Poet Siegfried Völlger seinen aktuellen Gedichtband benannt. Ein auf den ersten Blick merkwürdiger Titel. Blättert man in den Band hinein, wird’s schnell klar: Der Titel bezieht sich auf einen Vers des sarmatischen Dichters Johannes Bobrowski aus dem Gedicht »Freundesgruß«: »Lieblich erschallt / vom Rahnsdorfer Wald / Pilzfreund Bielers Posaune«. Mal abgesehen davon, dass viele Pilze tatsächlich an die Form von Blechblasinstrumenten erinnern, ist dieses Titel-Sampling auch Beleg dafür, wie sehr Siegfried Völlger die Poesie des Naturdichters Bobrowski schätzt. Denn Natur ist auch eine wesentliche Inspirationsquelle für ihn, ein Anreiz für Überlegungen zur Transzendenz: »einmal wird es sein / dass, was da von oben fällt / nicht schnee ist // sagen wir / die auswahl ist groß / manna, licht, weiches, um darauf / zum herrn zu schreiten«. Es gibt viele Möglichkeiten und Angebote, so Völlger in diesem Gedicht, aber er »werde wohl dahin wollen / wo meine katzen sind«.

Was bei Völlger auffällt, ist die Mischung aus hellwachem gesellschaftlichen Bewusstsein und lakonischer Tonlage. Die Gedichte kommen geradezu beiläufig daher. Sie verzichten zumeist auf Titel, stürzen sich kopfüber in ihre ersten Sätze, sind konsequent klein geschrieben und auch Satzzeichen sucht man als Ordnungsmerkmal oft vergebens. Umso prägnanter ist der Erkenntnisgewinn. »nur noch in den barbarischen ländern«, so heißt es etwa in einem Gedicht, »gibt es die todesstrafe / diktaturen / religiöse hoffnungszwänge«. Gegen solche Praktiken setzen wir Europäer uns als menschenrechtsbewusste Gewissensinhaber mit Naserümpfen ab, wird klargestellt – aber dann zündet Völlger die politische Granate, die uns als Heuchler entlarvt: »wir / lassen ertrinken«, z. B. im Mittelmeer. Solche Widersprüche wirft Völlger nicht mit großem Gestus hin, sondern lapidar, quasi im Relativsatz, souverän, mit Kalkül. Eine ganze »Lebensgeschichte« kann Völlger so auch in drei Versen erzählen: »niederlagen / aber immer / glück gehabt«. Von aphoristischer Kürze, aber ohne die sentenzhafte Besserwisserei vieler Aphoristiker. Weisheit, gelassen geäußert: So poetisch kann Understatement sein. (Siegfried Völlger: Pilzfreund Bielers Posaune, Edition Offenes Feld, 96 S.)

Frech, mit Chuzpe und von geradezu unverschämter Leichtigkeit: Helmut Kraussers Verse

Von Glutnestern spricht die Feuerwehr, wenn bei eigentlich gelöschten Bränden immer noch versteckte unterschwellige Hitze-Inseln lodern, die das Feuer jederzeit wieder entfachen können, weshalb eine Brandwache Stellung beziehen muss. Wenn man seinen Gedichtband »Glutnester« nennt, zeugt das von einem ganz anderen Anspruch: Die eigenen Gedichte sind Glutnester, während ringsum das Feuer der Poesie erloschen erscheint. »Glutnester suchen / draußen in der Nacht, / mit der bloßen, nackten / Hand aufnehmen, zum / Mund hinaufheben, / Luft reinpusten, / bis sie heller leuchten, bis // ich Feuer fang, brenne, / wieder Fackel bin und / zündeln kann.« Hier findet eine Verschmelzung, eine Identifikation statt: Nicht nur die Poesie, auch der Poet selbst ist entflammbares Material. Hat was, dieses Selbstbewusstsein. Das mag ich an der Poesie von Helmut Krausser: Die Gedichte haben Chuzpe, die stellen sich nicht hinten an. Frech sind sie und von geradezu unverschämter Leichtigkeit. Wie aus dem Handgelenk geschüttelt. Oder wie eine Sturzgeburt: »Ich habe heute Nacht / ein neues kleines / Gedicht bekommen. / Es ist sechs Zeilen lang / und bei bester Gesundheit. / Ich habe es Alfred getauft.«

Wem die Poesie so flockig zufällt, der darf seinem Affen auch mit grimmigem Humor ordentlich Zucker geben. Im Gedicht »sein erstes sushi« heißt es: »großvoder zöhlt von honger und dorscht / ouf bronntwein und bockworscht // doch olls wos gob in stolingrod / wor tüfgefrorner komerod.« Da darf man sich als Leser auch mal auf den Schenkel klopfen, ohne rot zu werden oder Angst davor zu haben, unter seinem Niveau zu lachen. Auch wenn es manchmal so scheint, die Gedichte arbeiten nicht mit Taschenspielertricks. Zaubern bzw. verzaubern können sie aber allemal. Das zeigen besonders die vielen Liebesgedichte, die auch gern mal sehr existenziell sein dürfen: »Kein Tod ist schöner als, / umgebracht von deiner Hand, / im Blut zu liegen, das dich / spiegelt, wie du, mit dem / Messer über mich gebeugt, / lächelst, glücklich bist. / Denn sonst zählt nichts.« Auf Liebe und Tod, darunter tut Krausser es nicht. Und das mit einer lyrischen Formenvielfalt und Virtuosität, die ihresgleichen sucht. (Helmut Krausser: Glutnester, Berlin Verlag, 112 S.)


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