Gedichte für Kinder – Folge 22: Acht Kindergedichte von Hanna Johansen

Uwe-Michael Gutzschhahn präsentiert jeweils am 10. eines Monats auf DAS GEDICHT blog faszinierende Kindergedicht-Autoren mit ihren vielfältigen Spielarten der Kinderpoesie. Denn das Kindergedicht soll lebendig bleiben – damit aus jungen Gedichtlesern neugierige Erwachsene werden, die sich an die Klänge und Bilder der Poesie erinnern, statt an die Last der didaktischen Lyrikinterpretation.

 

Mein Rabe

Nachts kommen böse Räuber in mein Zimmer,
seit letzter Woche wird es immer schlimmer.
Sie haben lange Messer und Pistolen
und wollen mich in ihre Höhle holen.

»Du hast doch Pfeil und Bogen!« Kann das nützen,
wenn ihre Augen auf der Treppe blitzen?

»Die Tür abschließen!« Nein. Ich hab entdeckt,
wie einer sich schon unterm Bett versteckt.

»Ich seh nichts unter deinem Bett, mein Bester.«
Das ist mal wieder typisch große Schwester.
Sie hat noch gar nicht richtig nachgesehen,
sonst würde ihr das Lachen schon vergehen.

Wer kann mir helfen? Tiger schläft schon lange.
Und diese Räuber sind vor gar nichts bange.

»Stimmt nicht!« Krächzt jetzt mein Rabe auf dem Schrank.
»Hab keine Angst! Ich helf dir.« Gottseidank.

»Ich bin zwar klein und sage dir ganz ehrlich,
die Räuber hier sind groß und sehr gefährlich.
Doch du bist sicher, glaub nur deinem Raben,
weil Räuber nämlich Angst vor Raben haben.«
 

Das Rhinozeros

Rhinozeros, ein Nasenhorn,
das rast, tritt es in einen Dorn,
in schwer rhinozerösem Zorn
und überholt sein eignes Horn.
 

Weihnachtsgedicht

Was naht? Die frohe Weihnachtszeit,
ein Tannenbaum steht schon bereit,
und wenn ich aus dem Fenster seh,
dann rieselt dies Jahr, glaub ich, Schnee.

Bald dunkelt es zur stillen Nacht.
Der Baum ist bunt zurechtgemacht
mit lauter Sternen, kein Lametta,
grün sind, so singt man, seine Blätta.

Es sind auch schon die Kerzen dran,
das ganze Ding ist fertig,
wir warten auf den Weihnachtsmann,
und dieser Mann ist bärtig.

Die Glocke spricht: »Plimpadibach«,
ich stehe auf und sehe nach.
Ein Hase steht vor unsrer Tür
und haucht: »Der Weihnachtsmann ist hier.«

»So nicht! Das Tier schlägt aus der Art!
Der Weihnachtsmann hat einen Bart,
und keinesfalls so lange Ohren.
Ein Hase hat hier nichts verloren.«

»Von drauß‘, vom Walde komm ich her«,
sagt dieses Vieh, »mein Sack ist schwer.
Und überall durch die Vorhangritzen
sah ich die Fotografen blitzen.«

Trägt auf dem Rücken einen Sack,
hat Eier drin im Multipack,
vermutlich nicht aus Bodenhaltung.
»Doch, doch, schwört«, sagt er, »die Verwaltung.«

»Mach dass du wegkommst mit den Eiern,
Weihnachten wollen wir jetzt feiern.«
»Schon gut, nur lass mich erst mal rein,
mir frieren sonst die Ohren ein.
Ich brauche warme Temperaturen.
Schon sieben auf den Kirchturmuhren?«
keucht atemlos das Nagetier.
»Komm rein«, sag ich, »hier ist die Tür.«

»Was will die Wanderratte hier?«
»Was macht der Mops mit dem Papier?«
»Der Mops hat eine Hasennase!«
»Das ist kein Mops, das ist ein Hase.«

»Wir warten auf den Weihnachtsmann
mit Esel, Bart und Marzipan«,
so etwa die Familie spricht.
Und: »Weihnachtshasen gibt es nicht.«

»Das mag ja sein«, sagt dieser lächelnd,
sich warme Heizungsluft zufächelnd,
und dann ganz ohne Bart und leise
ergänzt er unverkennbar weise:

»Naht erst die wilde Weihnachtszeit,
dann ist auch Ostern nicht mehr weit.«
 

Ein Brillenbär

Ein Brillenbär kommt nachts herein,
sieht aber nicht so aus.
Trotzdem, er ist nicht grade klein.
»Was willst du, Riesenmaus?«

Er stolpert, bricht sich fast ein Bein
in unserm dunklen Haus.
»Du«, brummt er dann, »du bist gemein.
Rück meine Brille raus!«
 

Ein Buch

Ein Buch ist wie ein Garten, sagt man,
den du in deiner Tasche trägst.
Wohin ist sie gegangen, fragt man,
sobald du nur dein Buch aufschlägst.
Du bist noch da und doch woanders,
Das Buch ist reine Hexerei,
da sitzt du still, während du wanderst,
und bist allein und doch dabei.
Du bist im Himmel, in der Hölle,
du bist bei dir und in der Welt,
du bist der Fisch, du bist die Welle
und die die Welt zusammenhält.
 

Ruhe!

Die Sommernacht ist tief und leise.
Das Morgengrauen kommt um vier.
Der Brombär hört die erste Meise
und brummt: »Was für ein frühes Tier!«

Verschlafen steigt er aus dem Bett
und gähnt und setzt sich ans Klavier.
»Und jetzt sing noch mal im Duett
mit mir.«

Ach, keine Meise würde singen,
wenn der so in die Tasten haut.
Nach Musik will das gar nicht klingen,
bloß laut.

Der Himbär fällt die Treppe runter:
»Brombär, was soll der Krach so früh?«
»Ich hab nicht angefangen«, brummt der:
»nein, sie.«

Der Heidelbär in seinem Zimmer,
der jault: »Nachtschlafenes Getue!
Ihr seid gemein. Ihr weckt mich immer.
Ru-he!«
 

Ein Frosch

Ein Frosch ging langsam durch den Wald,
er war nicht groß, das sah man bald.
Und wenn’s kein Frosch gewesen ist,
dann war’s ein Fuchs, der Frösche frisst.

Der Fuchs ging langsam durch den Wald,
er war noch klein, das sah man bald.
Und wenn das Tier nicht Rotfuchs heißt,
die Schlange war’s, die Füchse beißt.

Die Schlange ging dann durch den Wald,
sie war nicht dick, das sah man bald.
Und wenn sie’s nicht gewesen ist,
so war’s ein Kauz, der Schlangen frisst.

Der Kauz ging langsam durch den Wald,
der war nicht satt, das sah man bald.
Wenn er auch viel gefressen hat,
so ist er doch noch längst nicht satt.
 

Ein Baum

An einer Straße steht ein Baum.
Der Baum ist groß und leise.
Sieht aus, als atmete er kaum,
und ist doch grün und weise.

Der Baum ist nie für sich allein.
Er summt und brummt und knistert.
In seinem Schatten bist zu klein
und hörst ihn, wie er flüstert.

Es wehn die Blätter hin und her,
sein Atem aus und ein,
denn ohne Atem könnte er
nicht groß geworden sein.
 

© Hanna Johansen

Hanna Johansen stammt eigentlich aus Bremen, lebt aber schon fast ein Leben lang in Kilchberg bei Zürich. Sie hat viele Romane und Erzählungen für Erwachsene geschrieben, aber auch eine große Zahl von Kinderbüchern (zunächst unter dem Namen Hanna Muschg). Zu ihren wichtigsten Kinderbüchern zählen »Bruder Bär und Schwester Bär« (1983), »Die Ente und die Eule« (1984), die »Siebenschläfergeschichten« (1985) sowie »Felis Felis« (1987) und das Buch »Ich bin hier bloß die Katze« (2007). Sie wurde u. a. mit dem Schweizerischen Jugendbuchpreis und dem Österreichischen Kinder- und Jugendbuchpreis ausgezeichnet, nur einen eigenen Kinderlyrikband gibt es von ihr nicht, obwohl sie seit langem in Anthologien und Zeitschriften die schönsten Kindergedichte veröffentlicht, die man sich vorstellen kann.

Uwe-Michael Gutzschhahn. Foto: Volker Derlath
Uwe-Michael Gutzschhahn. Foto: Volker Derlath

Uwe-Michael Gutzschhahn, Jg. 1952, lebt in München und hat an der Universität Bochum über den Lyriker Christoph Meckel promoviert. Seit 1978 hat er zahlreiche eigene Gedichtbände veröffentlicht, u. a. »Fahrradklingel« (1979), »Das Leichtsein verlieren« (1982) und »Der Alltag des Fortschritts« (1996). Zwischen 1988 und 1991 gab er die 12-bändige Kinder-Taschenbuchreihe »RTB Gedichte« mit Texten u. a. von Ernst Jandl, Oskar Pastior, Friederike Mayröcker und Sarah Kirsch heraus. 2003 folgte die Anthologie »Ich liebe dich wie Apfelmus«, die er mit Amelie Fried zusammenstellte und die gerade in einer Neuausgabe wiederaufgelegt wurde. Sein erster eigener Kindergedichtband folgte 2012 unter dem Titel »Unsinn lässt grüßen«. Und im Herbst 2015 erschien seine große Nonsenslyrik-Anthologie »Ununterbrochen schwimmt im Meer der Hinundhering hin und her.«

Alle bereits erschienenen Folgen von »Gedichte für Kinder« finden Sie hier.

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