»Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie«: eine fortlaufende Online-Anthologie, zusammengestellt von Jan-Eike Hornauer
Hans-Werner Kube
erde
erde und irrsal
irrsal
irrsal und wirrsal
erde
erde und wirrsal
erde und irrsal und wirrsal und
ein verwunderter
© Hans-Werner Kube, Witten
Dieses Gedicht ist ein Meta-Kommentar in Versen, also ein Kommentar zum aktuellen Kommentargewirr rund um das »avenidas«-Gedicht von Eugen Gomringer. Der Hintergrund: Gomringers Gedicht steht seit 2011 auf der Südfassade der Alice-Salomon-Hochschule in Berlin-Hellersdorf. Eugen Gomringer, gerne als Vater der konkreten Poesie bezeichnet, wurde in ebenjenem Jahr mit dem Alice-Salomon-Poetik-Preis geehrt; das auf die Fassade aufgebrachte Gedicht des bolivianisch-schweizerischen Poeten ist in zahllosen Anthologien zu finden und fest im literarischen Kanon verankert. Es besteht nur aus wenigen Worten, neben »Alleen« sind dies, in der deutschen Übersetzung, »Blumen«, »Frauen«, die Worte »und« sowie »ein« und das abschließende »Bewunderer«.
Studierende der Universität beklagten Sexismus, da hier Frauen ebenso wie Blumen bewundert würden und mithin zum Objekt gemacht. Sie forderten, das Gedicht von der Fassade zu entfernen. Daraufhin sahen zahlreiche Kulturschaffende, unter anderem der Dichter selbst sowie seine Tochter, die Poetin Nora Gomringer, und Journalisten die Kunstfreiheit bedroht; andere wiederum verteidigten die Kritik am Gedicht oder nahmen Mittelpositionen ein. Am Ende dieses kleinen »Zum Original«-Textes folgt eine Linksammlung zu diesem Thema, die freilich nur einen kleinen und willkürlichen Ausschnitt aus der medialen Debatte darstellt. Im ersten Link (Deutschlandfunk Kultur) ist das umstrittene Gedicht sowohl im Original als auch in der Übersetzung nachzulesen.
Hans-Werner Kube hat mit seinem »erde«-Gedicht, das formal dem Vorbild aufs Strengste folgt, nun seiner Verwunderung über diese Debatte Ausdruck gegeben. Offenkundig war er, wie viele andere auch, sehr überrascht davon, dass die bescheiden und alltagspoetisch daherkommenden »avenidas«-Verse so einen Anstoß erregen konnten und in rasanter Geschwindigkeit zu derart großen und kontroversen Themen wie Sexismus und Frauenunterdrückung sowie Kunstfreiheit allgemein in der Diskussion führten.
Zugleich, und das ist eine besondere Leistung des Kubes, kommentiert sein Gedicht aber nicht nur trefflich und in der Form des Originals jene Diskussion zum Gedicht. Nein, durch die Abstraktion weitet er sein eigenes inhaltliches Feld so sehr, dass es auch als grundsätzliches Gedicht zum Verhältnis vom einzelnen Menschen zur Welt herausragend funktioniert – und mithin universell für sich alleine stehen kann.
Diese Ausgestaltung ist sicher sowohl absichtlich als auch mit einem Augenzwinkern geschehen: Macht das Gedicht so doch wiederum genau das, was es an der »avenidas«-Diskussion so unverständlich findet – es nimmt das Kleine und diskutiert von ihm ausgehend (auch) das Große. Und ja, spätestens wenn man berücksichtigt, dass der Hans-Werner Kube einst Gemeindepastor war, gelangt man auch hier dann vollkommen auf die Meta-Ebene, denn dann geht’s nicht einmal »nur« um Erde und Mensch, sondern gleich auch noch mit um die transzendentale Sphäre.
Unterstrichen wird dieser Ansatz dadurch, dass »Irrsal und Wirrsal« ein Zitat aus Genesis 1,2 der Bibelübersetzung von Martin Buber und Franz Rosenzweig ist; im Hebräischen heißt es übrigens »tohu wa bohu«.
Außerdem gleicht Kubes Poem durch seinen inhaltlichen Ansatz direkt dem Original, da auch hier ein Beobachter fasziniert eine Szene betrachtet sowie zeitlos Grundsätzliches (Schönheit dort, Ratlosigkeit hier) dargestellt wird.
Und hier nun die kleine »avenidas«-Link-Liste:
Deutschlandfunk Kultur: http://www.deutschlandfunkkultur.de/kontroverse-um-eugen-gomringers-gedicht-kunstfreiheit.2156.de.html?dram:article_id=394868
Welt.de: https://www.welt.de/kultur/article170614702/Es-koennte-zum-Aeussersten-kommen.html
Merkur (Zeitschrift): https://www.merkur-zeitschrift.de/2017/10/10/apropos-bewunderung-zur-debatte-um-die-verwendung-von-eugen-gomringers-konstellation-avenidas-an-der-hausfassade-einer-berliner-hochschule/
FR.de: http://www.fr.de/kultur/literatur/avenidas-wo-ist-die-autorin-petra-menard-a-1390294
Zeit Magazin: http://www.zeit.de/zeit-magazin/2017/44/harald-martenstein-sexismus-gedichte-harvey-weinstein
Tagesspiegel.de: http://www.tagesspiegel.de/wissen/berlin-hellersdorf-streit-um-gedicht-an-fassade-der-alice-salomon-hochschule/20291048.html
sueddeutsche.de: http://www.sueddeutsche.de/kultur/podiumsdiskussion-fassadenkampf-1.3740414
faz.net: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/barbara-koehler-zur-debatte-um-gomringers-gedicht-15214670.html
Wikipedia.de: https://de.wikipedia.org/wiki/Eugen_Gomringer
Hans-Werner Kube, 1953 in Leverkusen geboren, war nacheinander Finanzbeamter, Zivi, Gemeindepastor. Lebt seit 2001 als Verwaltungsangestellter und Redakteur in Witten. Kube gehört zum Autorenkreis Ruhr-Mark und leitet den Wittener Autorinnen- und Autorentreff. Er schreibt überwiegend Lyrik, hat einige Preise gewonnen, u. a. den Hochstadter Stier 2015 (Publikumspreis), und veröffentlicht in Anthologien (zuletzt in »Wenn Liebe schwant«, hg. v. Jan-Eike Hornauer, muc Verlag 2017), Zeitungen und Literaturzeitschriften (u. a. in DAS GEDICHT).
»Gedichte mit Tradition« im Archiv
Zu dieser Reihe: »Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie« ist eine Online-Sammlung zeitgenössischer Poeme, die zentral auf ein bedeutendes Werk referieren, ob nun ernsthaft oder humoristisch, sich verbeugend oder kritisch. Jeden Freitag erscheint eine neue Folge der von Jan-Eike Hornauer herausgegebenen Open-End-Anthologie. Alle bereits geposteten Folgen finden Sie hier.