»Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie«: eine fortlaufende Online-Anthologie, zusammengestellt von Jan-Eike Hornauer
Hans-Werner Kube
Marsch
und wenn wir marschieren
dann leuchtet ein Licht
das leuchtet uns heim
zum Jüngsten Gericht
und wenn wir uns finden
beim Marsch durch das Land
dann halten wir kaum
der Druckwelle stand
und wenn wir im Sturme
dem Ziel uns genaht
verglühn wir bei tau-
send mal tausend Grad
ein aschener Himmel
in strahlender Nacht
so weit haben wir’s
mit Marschieren gebracht
© Hans-Werner Kube, Witten
+ Zu Original und Hintergrund
Die Vorlage für »Marsch« von Hans-Werner Kube findet sich in Walter Gättkes »Und wenn wir marschieren« von 1922. Gättkes kriegstreiberischen Versen setzte Kube schon vor Jahrzehnten, im Rahmen von Friedensbewegung und Angst vor einem nuklearen Krieg, seine Kriegsgeschehensvision entgegen. Selbstredend haben hier nicht nur die Zeitläufte mitsamt ihren Erfahrungswerten und technischen Errungenschafen die Perspektive verändert – nein, Gättke war schon zu seiner Zeit als augenfällig militaristisch einzustufen (nicht umsonst wurden etliche seiner Lieder, wie auch »Und wenn wir marschieren« von Bündischer Jugend, HJ und Wehrmacht ins Repertoire aufgenommen). Und dass Kube, der unter anderem als Zivi und Gemeindepastor tätig war, hinwiederum selbst für friedensbewegte Zeiten sehr klar positioniert war, liegt, kontrapodisch, ebenso auf der Hand.
Hans-Werner Kube greift in seiner Nachdichtung die Bildsprache der Vorlage auf – wendet sie aber stetig ins Gegenteil, selbst da, wo er sie vordergründig beibehält: Aus Erlösung wird so Untergang, und das Heil findet sich eben nicht im Krieg, sondern jenseits davon (im schlimmsten Fall in der Nachuntergangswelt im christlich-transzendenten Sinne, im besten Fall über die Kriegsvermeidung und Friedenschaffen). Krieg und Glaube fallen bei Kube nicht mehr in eins, sondern stehen einander antithetisch gegenüber, das aufmarschierende Militär bedeutet nicht Glücksversprechen, sondern apokalyptische Drohung. Und das Licht verheißt hier nicht mehr himmlische Belohnung schon auf Erden für die selbstredend glorreichen Soldaten, sondern es steht für gleißende, absolute Vernichtung, für eine negative Macht, die allumfassend ist und doch mit jener (eines liebenden oder doch zumindest ambivalenten und zielgerichtet agierenden) Gottes nichts zu tun hat.
Leider werden Antikriegslieder (und auch Kriegslieder) immer wieder von Neuem aktuell. Hans-Werner Kube hat seinen »Marsch« für die »Gedichte mit Tradition« vor dem Hintergrund des Angriffskriegs von Russland gegen die Ukraine zur Verfügung gestellt – vor dessen Hintergrund auch die Gefahr des Einsatzes von Atomwaffen nun wieder deutlich akuter erscheint denn lange Zeit zuvor. Und der doch ohnehin dies ganz sicher ausweist: Krieg ist sehr, sehr vieles – aber ganz sicher nicht glorios und ebenso sicher von einer schrecklichen Zerstörungskraft, und dies für alle Betroffenen und per se über Generationen hinweg.
»Marsch« von Walter Gättke ist nachzulesen etwa hier im Volksliederarchiv des Müller-Lüdenscheidt-Verlags:
hhttps://www.volksliederarchiv.de/und-wenn-wir-marschieren/
+ Zum Autor
Hans-Werner Kube, 1953 in Leverkusen geboren, war nacheinander Finanzbeamter, Zivi, Gemeindepastor sowie seit 2001 bis zu seinem (Teil-)Ruhestand ab 2018 Verwaltungsangestellter und Redakteur in Witten. Letzteres ist er im kleinen Umfang weiterhin, außerdem gehört Kube zum Autorenkreis Ruhr-Mark und leitet den Wittener Autorinnen- und Autorentreff. Er schreibt überwiegend Lyrik, hat einige Preise gewonnen, u. a. den Hochstadter Stier 2015 (Publikumspreis), und veröffentlicht in Anthologien (zuletzt u. a. in »Wenn Liebe schwant«, hg. v. Jan-Eike Hornauer, muc Verlag 2017, und in »Der Himmel von morgen«, hg. v. Anton G. Leitner, Reclam 2018), Zeitungen und Literaturzeitschriften (u. a. in DAS GEDICHT).
»Gedichte mit Tradition« im Archiv
Zu dieser Reihe: »Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie« ist eine Online-Sammlung zeitgenössischer Poeme, die zentral auf ein bedeutendes Werk referieren, ob nun ernsthaft oder humoristisch, sich verbeugend oder kritisch. Jeden zweiten Freitag erscheint eine neue Folge der von Jan-Eike Hornauer herausgegebenen Open-End-Anthologie. Alle bereits geposteten Folgen finden Sie hier.