»Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie«: eine fortlaufende Online-Anthologie, zusammengestellt von Jan-Eike Hornauer
Christian Engelken
Arnswaldtstraße
(für Dres. Benn und Schneider)
Mein Zahnarzt Dr. Schneider,
Er bohrte heftig (leider!),
Wo einstmals nebenan
Der Dr. Benn auf Blümchen sann.
Bei leichten Mundgerüchen
Und immer gleichen Sprüchen
(»Ganz aufmachen, weit auf!«)
Verkürzte Benn der Dinge Lauf.
Kam Schneider, Gert auf Touren,
Entsiegelnd die Fissuren,
So dachte schmerzvertieft ich denn
An Astern und an Benn.
Nehmt dieses nicht als Spottlied!
Ich lernte erst den Gottfried
Und auch der Dichtung Eigenwert
Recht schätzen durch den Gert! –
© Christian Engelken, Hannover
+ Zum Original
Das Vorbild für »Arnswaldtstraße« des Hannoveraner Dichters Christian Engelken ist Gottfried Benns wohl berühmtestes Gedicht, nämlich »Kleine Aster«. In diesem zentralen Poem des prominenten Vertreters expressionistischer Dichtung wird ein toter Bierfahrer seziert. Eine Aster, die ihm zunächst zwischen die Zähne gesteckt ist, verrutscht bei der Untersuchung und wird schließlich in seiner ausgestopften Brusthöhle zur Ruhe gebettet. Ein ausdrucksstarkes düster-romantisches (manche behaupten auch: anti-romantisches) Gedicht, das bei Erscheinen noch in der Kaiserzeit quasi unerhört war und bis heute große Wirkung entfaltet. Wer es einmal gelesen hat, wird sich mit hoher Wahrscheinlichkeit immer an es erinnern können.
Aufgrund eben dieser Wirkmächtigkeit nimmt es nicht wunder, dass Christian Engelken (in diesem Falle dürfen Autor und lyrisches Ich durchaus als gleich angesehen werden) gerade dieses Gedicht in einem nicht eben lyrischen Handlungskontext in den Sinn kommt. Und freilich gilt zudem und insbesondere: Hilflos und dem Arzt ausgeliefert liegt das lyrische Ich beim Dentisten da, so ähnlich wie der Bierfahrer – oder die Aster – im Benn-Gedicht. Die namentlich genannten, nämlich Benn und Schneider, gehör(t)en beide beruflich dem Stande der Weißkittel an. Der Mund und ein Fremdkörper in ihm sind in beiden Fällen gegeben. Und klar geht es bei Benn um den echten Tod und bei Engelken allenfalls um gefühlte Todesnähe (ob aus Angst oder Sehnsucht [Erlösung vor den – befürchteten – Schmerzen] oder weswegen auch immer), doch auch dieses Motiv bleibt erhalten.
Selbstredend sind die Stimmungslage (Pathos vs. Alltag), der Erzählton (hoher Ton vs. Plauderei) und die formalen Mittel (freie Verse vs. strenge Metrik und striktes Reimschema) jedoch ganz andere – eine gelungene Hommage an Benn, aus der Warte des heutigen komischen Gedichts heraus.
Weiterführender Link zu Gottfried Benn und zu diesem Gedicht:
https://www.swr.de/swr2/programm/sendungen/wissen/gottfried-benn/-/id=660374/did=23007616/nid=660374/15kq1rd/index.html
+ Zum Autor
Christian Engelken wurde 1965 in Hannover geboren, wo er heute auch wieder lebt. Studium der Germanistik, Musikwissenschaft und Philosophie in Göttingen und Hamburg sowie kaufmännische Ausbildung. Tätigkeiten u. a. im Lektorat eines Verlages und in der Unternehmensverwaltung. Engagierter Lyriker, der besonders das komische Gedicht liebt. 2009 erschien sein Erstling »Die Neuvermessung Hildesheims« (mit Illustrationen von Frauke Maydorn, Moritzberg-Verlag), zu dem es im Hildesheimer Lyrikpark eine Installation gab. Jüngster Solo-Titel: »Kurvendiskussion« (Steinmeier, Reihe »Poesie 21« 2011). Ein Buch mit Tiergedichten ist in Arbeit und wird derzeit illustriert. Dazu Veröffentlichungen in zahlreichen Anthologien und Literaturzeitschriften (u. a. in den Zeitschriften »Sterz« und »Das Gedicht« sowie der Anthologie »Wenn Liebe schwant«, hg. v. Jan-Eike Hornauer, muc Verlag 2017). Postkarten- und Posterprojekte, Auftritte im Radio. Christian Engelken ist Mitglied im Autorenkreis »Die Hildesheimlichen Autoren«.
www.Christian-Engelken.de
»Gedichte mit Tradition« im Archiv
Zu dieser Reihe: »Gedichte mit Tradition – Neue Blätter am Stammbaum der Poesie« ist eine Online-Sammlung zeitgenössischer Poeme, die zentral auf ein bedeutendes Werk referieren, ob nun ernsthaft oder humoristisch, sich verbeugend oder kritisch. Jeden zweiten Freitag erscheint eine neue Folge der von Jan-Eike Hornauer herausgegebenen Open-End-Anthologie. Alle bereits geposteten Folgen finden Sie hier.