Tobias Burghardt flaniert jeweils am 5. eines Monats auf DAS GEDICHT blog durch die südlichen Gefilde der Weltpoesie. In der Rubrik »Im babylonischen Süden der Lyrik« werden Sprachgemarkungen überschritten und aktuelle Räume der poetischen Peripherien, die innovative Mittelpunkte bilden, vorgestellt.
In jeder Sprache und ihrer Poesie gibt es Meisterwerke, überall auf der Welt, wenn der offene Blick ein wenig tiefer hineinschaut in die universelle Geschichte ihrer poetischen Texte. In Nepal und der nepalesischen Poesie gilt das grandiose Gedicht »पागल« (Pagal – The Lunatic) von Laxmi Prasad Devkota (1909 – 1959), geschrieben im Jahr 1939, erstveröffentlicht 1953, als ein solches Meisterwerk der modernen Poesie, das dieser »große Dichter« (nep. »Mahakabi«) im Jahr 1956 selbst aus dem Nepali ins Englische übersetzte. Um einen ersten Einblick in sein berühmtes sechsteiliges Langgedicht zu bekommen, folgt hier der Anfang, folgen hier die Teile 1 und 2 in Nepali, Englisch und Deutsch.
लक्ष्मीप्रसाद देवकोटा
पागल
१
जरूर साथी म पागल !
यस्तै छ मेरो हाल ।
२
म शब्दलाई देख्दछु !
दृश्यलाई सुन्दछु !
बासनालाई स्वाद लिन्छु ।
आकाशभन्दा पातला कुरालाई छुन्छु ।
ती कुरा,
जसको अस्तित्व लोक मान्दैंन
जसको आकार संसार जान्दैन !
म देख्दछु, ढुङ्गालाई फूल !
जब, जलकिनारका जल चिप्ला ती,
कोमलाकार, पाषाण,
चाँदनीमा,
स्वर्गकी जादूगर्नी मतिर हाँस्दा,
पत्रिएर, नर्मिएर, झल्किएर,
बल्किएर, उठ्दछन् मूक पागलझैँ,
फूलझैँ- एक किसिमका चकोर फूल !
म बोल्दछु तिनसँग, जस्तो बोल्दछन् ती मसँग
एक भाषा, साथी !
जो लेखिन्न, छापिन्न, बोलिन्न,
बुझाइन्न, सुनाइन्न ।
जुनेली गङ्गा-किनार छाल आउँछ तिनको भाषा
साथी ! छाल छाल !
जरुर साथी म पागल !
यस्तै छ मेरो हाल !
* * *
Laxmi Prasad Devkota
The Lunatic
1
Oh yes, friend! I’m crazy—
that’s just the way I am.
2
I see sounds,
I hear sights,
I taste smells,
I touch not heaven but things from the underworld,
things people do not believe exist,
whose shapes the world does not suspect.
Stones I see as flowers
lying water-smoothed by the water’s edge,
rocks of tender forms
in the moonlight
when the heavenly sorceress smiles at me,
putting out leaves, softening, glistening,
throbbing, they rise up like mute maniacs,
like flowers, a kind of moon-bird’s flowers.
I talk to them the way they talk to me,
a language, friend,
that can’t be written or printed or spoken,
can’t be understood, can’t be heard.
Their language comes in ripples to the moonlit Ganges banks,
ripple by ripple—
oh yes, friend! I’m crazy—
that’s just the way I am.
Translated into English by Laxmi Prasad Devkota
* * *
Laxmi Prasad Devkota
Der Mondsüchtige
1
Oh ja, mein Freund! Ich bin mondsüchtig!
So bin ich nun mal.
2
Ich sehe Klänge,
ich höre Sichtbares,
ich schmecke Gerüche,
ich berühre nicht den Himmel, sondern Dinge aus der Unterwelt,
Dinge, an deren Existenz die Menschen nicht glauben,
deren Formen die Welt nicht erahnt.
Steine sehe ich als Blumen,
die wassergeglättet am Rande des Wassers liegen,
Felsen mit zarten Formen
im Mondlicht,
wenn die himmlische Zauberin mich anlächelt,
Blätter treibend, weich werdend, glitzernd,
pochend, sie erheben sich wie stumme Wahnsinnige,
wie Blumen, eine Art von Mondvogelblumen.
Ich spreche mit ihnen, wie sie mit mir sprechen,
eine Sprache, mein Freund,
die weder geschrieben noch gedruckt noch gesprochen werden kann,
auch nicht verstanden und nicht gehört werden kann.
Ihre Sprache kommt in leichten Wellen zu den mondbeschienenen Ufern des Ganges,
Plätschern um Plätschern —
Oh ja, mein Freund! Ich bin mondsüchtig!
So bin ich nun mal.
Aus dem Englischen ins Deutsche übertragen von Juana Burghardt und Tobias Burghardt
© Laxmi Prasad Devkota
Wir verdanken den Hinweis auf dieses bemerkenswerte Gedicht aus Kathmandu dem jungen nepalesischen Dichter Kiran Bhatta, den wir beim wunderschönen Internationalen Poesiefestival mit Friedenprozession »Kabitar Shanti Jattra« im südbangladeschischen Cox’s Bazar am Golf von Bengalen kennengelernt haben (siehe auch »Im babylonischen Süden der Lyrik« Folge 54).
In jeder Sprache und ihrer Poesie gibt es bekanntlich Meisterwerke, beispielsweise weiter im Süden des Indischen Subkontinents das fulminante Gedicht »Path hanta« (Die Straßen von Babylon) des modernistischen Bangla-Dichters Jibanananda Das (siehe auch »Im babylonischen Süden der Lyrik« Folge 45) oder auch das berühmte moderne Gedicht »The Coromandel Fishers« (Die Koromandel-Fischer) der englischsprachigen bengalischen Dichterin Sarojini Naidu, ebenfalls 1939 geschrieben (siehe auch »Im babylonischen Süden der Lyrik« Folge 99).

Tobias Burghardt (Jahrgang 1961) ist Lyriker, Essayist, Übersetzer und Verleger der Stuttgarter Edition Delta (www.edition-delta.de). Er veröffentlichte den Essayband »Ein Netz aus Blicken. Essays für lateinamerikanische Lyrik« und mehrere Lyrikbände, darunter seine Fluss-Trilogie sowie »Septembererde & August-Alphabet«. Zuletzt erschien seine Werkauswahl »Mitlesebuch 117« (Aphaia Verlag, Berlin/München 2018), sein aktueller Gedichtband »Die Elemente der See« und die umfangreiche Werkauswahl 1991–2021 »Das Gedächtnis des Wassers«. 2020 erhielt er den Internationalen Poesiepreis »Città del Galateo – Antonio de Ferrariis« in Rom, Italien. Seine Gedichte wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und Einzeltitel erschienen in Argentinien, Indien, im Irak, in Japan, Kolumbien, Portugal, Serbien, Schweden, Uruguay und Venezuela. Er ist Mitbegründer und Koordinator des »Babylon Festivals für Internationale Kulturen & Künste«, das seit 2012 jährlich in Babylon und Bagdad stattfindet. Mit seiner Frau Juana Burghardt überträgt er lateinamerikanische Lyrik, katalanische Poesie, lusophone Lyrik und spanische Poesie. Sie sind Herausgeber und Übersetzer der Werkreihe von Miquel Martí i Pol, aus der Pep Guardiola im Sommer 2015 im Literaturhaus München las, und seit Herbst 2014 der Stuttgarter Juarroz-Werkausgabe, dem wir das GEDICHT-Motto »Ein Gedicht rettet einen Tag« (Roberto Juarroz) verdanken. Im Frühjahr 2017 wurden beide für ihr jeweiliges poetisches Werk und ihr gemeinsames literarisches Engagement zwischen den Kulturen und Sprachen mit dem »Internationalen KATHAK-Literaturpreis« in der südasiatischen Metropole Dhaka, Bangladesch, und als Verlagsteam der Edition Delta mit dem »Deutschen Verlagspreis 2021« und dem »Deutschen Verlagspreis 2024« des Kulturstaatsministeriums, Berlin, ausgezeichnet. Tobias Burghardt war GEDICHT-Redakteur der ersten Stunde und organisierte immer wieder wunderbare Sonderteile mit lateinamerikanischer Poesie für unsere Zeitschrift DAS GEDICHT.
Alle bereits erschienenen Folgen von »Im babylonischen Süden der Lyrik« finden Sie hier.