Tobias Burghardt flaniert jeweils am 5. eines Monats auf DAS GEDICHT blog durch die südlichen Gefilde der Weltpoesie. In der Rubrik »Im babylonischen Süden der Lyrik« werden Sprachgemarkungen überschritten und aktuelle Räume der poetischen Peripherien, die innovative Mittelpunkte bilden, vorgestellt.
In der westmarokkanischen Hafenstadt Safi, die in der mazirischen Berbersprache Tamazight ⴰⵙⴼⵉ Asfi heißt und »Flut« bedeutet, fand kürzlich das VI. Internationale Poesiefestival 2018 statt, veranstaltet von der Stiftung für Kultur und Kunst »Al-Kalima« (arabisch: Das Wort) unter der Leitung des Dichters und Journalisten Abdelhaq Mifrani (Marrakesch) und Moukhariq Mohamed (Safi).
Im Mittelpunkt stand der lateinamerikanische Dichter Juan Manuel Roca, der für sein herausragendes Lyrikwerk in spanischer Sprache gewürdigt wurde. Die Laudationen im Atlantide von Asfi hielten der marokkanische Dichter und Übersetzer Khalid Raissouni, der seine Werkauswahl auf Arabisch vorbereitet, der in Nicaragua lebende palästinensisch-jordanische Dichter und Maler Fakhri Ratrout sowie der kolumbianische Dichter und Literaturprofessor der City University of New York Carlos Aguasaco. In der Zwischenzeit malte der Kalligraph Hassan Ferasioui auf der Saalbühne ein Gemälde für den Geehrten, der nach der feierlichen Überreichung den Lesereigen eröffnete.
Juan Manuel Roca
UN HOMBRE DE PALABRA
Trazo la palabra piel. En un festín de garras y de plumas la palabra cuervo la desmiembra como a una res desollada.
Siembro la palabra jazmín. Cuando está a punto de brotar su aroma, la palabra desierto la borra, escamotea su savia.
Escribo la palabra eternidad y una rosa se marchita. Arrojo la palabra pájaro y cae en espiral, desplumada y seca.
Ni siquiera la palabra agua queda de la palabra hielo.
Juan Manuel Roca
EIN MANN DES WORTES
Ich zeichne das Wort Haut. Zur Feier der Krallen und Federn zerlegt es das Wort Rabe wie ein gehäutetes Rind.
Ich säe das Wort Jasmin. Kurz bevor sein Duft ausströmt, streicht es das Wort Wüste, beraubt es seines Saftes.
Ich schreibe das Wort Ewigkeit, und eine Rose welkt. Ich werfe das Wort Vogel, und es fällt kreisend, gerupft und trocken.
Noch nicht einmal das Wort Wasser verbleibt vom Wort Eis.
Übertragen von Juana & Tobias Burghardt
Rund 50 Dichterinnen und Dichter aus insgesamt 25 Ländern von 4 Kontinenten waren angereist und nahmen an der poetischen Karawane teil, die nach drei intensiven Tagen in Safi mit diversen Schulbesuchen und einem anspruchsvollen Jugendlyrikwettbewerb, bei dem u.a. das Gedicht »The Light at the End of the Tunnel« von Ahmad (19) ausgezeichnet wurde, auf Lesetour in die marokkanischen Städte Asilah, Tanger, Meknès – mit der archäologischen Ruinenstätte Volubilis, heute: Walili – sowie Marrakesch ging.
In Volubilis las Juan Manuel Roca mit nistenden Störchen auf Säulenkapitellen im magischen Forum sein beliebtes »Von Römern überfallenes Gedicht« (Poema invadido por romanos); anschließend näherte sich plötzlich beim letzten Gedicht ein kleiner sprachbegeisterter Junge dem peruanischen Dichter Javier Llaxacondor, mit dem er seine abschließenden Verse aus dem Stegreif gemeinsam auf Spanisch las.
In der berühmten Madrasa Bū ʿInānīya von Meknès war die längste und vielfältigste Lesung mit einem Schlussgedicht auf Sephardisch und maghrebinischer Musik, die bis in die tiefe Nacht der östlichen Medina andauerte.
Mehr als ein lebendiger Hauch von Al-Andalus Al-Jadeed, dem weiters gültigen Traum der toleranten, vielsprachigen und transkulturellen Harmonie des friedlichen Nebeneinanders, war jederzeit deutlich spürbar: »wo die karawane / auch hinziehen mag«. (Ibn Al-Arabi, 1165 Murcia – Damaskus 1240)
Unverwechselbare poetische Akzente setzten dabei u.a. der in Afrin gebürtige und in Bonn lebende kurdische Exil-Poet Hussein Habasch, die finnische Dichterin samischer Sprache Inger-Mari Aikio, der auf Kannada schreibende indische Poet H.S. Shivaprakash, die tunesische Dichterin Sondes Baccar, der palästinensische Dichter und Kulturjournalist aus Jerusalem Najwan Darwish, die spanische Lyrikerin Verónica Aranda, der Luxemburger Lyriker Jean Portante, die in den USA lebende chinesische Dichterin Ming Di, der marokkanische Dichter und Übersetzer Mohamed Ahmed Bennis, die Waliser Lyrikerin Zoë Skoulding, der argentinische Dichter Jorge Paolantonio, die italienische Poetin und Archäologin Flaminia Cruciani, der peruanische Dichter und Cantautor Lino Bolaños, die venezolanische Poetin Ely Rosa Zamora, der bulgarische Dichter und Flötist Ivan Hristov, die ecuadorianische Dichterin Siomara España, der zypriotische Dichter Pambos Kouzalis, die chilenische Dichterin Karo Castro, der belgische Lyriker Germain Droogenbroodt, die in New York lebende Dichterin aus El Salvador Karla Coreas der litauische Poet Antanas A. Jonynas, die französische Dichterin Ada Mondès, der marokkanische Poet Nabil Mansar, die ägyptische Dichterin Deema Mahmoud und der chilenische Fotograf Rufino Haag, der gerade seinen Dokumentarfilm über das unvergessliche Safi-Festival 2018 schneidet.
Juan Manuel Roca
MONÓLOGO DEL AMANUENSE
Mientras escribo,
Un indígena desciende el Orinoco
Leyendo en el claro alfabeto del agua
La edad del árbol, la sombra del follaje
Que narra el lugar del mundo
En que se encuentra.
Mientras escribo,
Las nubes y su grafía de sombras
Dan en las montañas una lección de levedad
A las piedras desnudas y profundas.
Todo escribe en un lenguaje oculto
Acaso hecho «de la misma materia de los sueños».
Escribe la luz en medio del bosque
Recordando que hay más dioses despiertos
En el árbol que en el hombre.
Y yo que no leo el vuelo de las aves,
Que desconozco el lenguaje del venado,
Las conversaciones del aire con la flor
O el otoño que deja volar las hojas de su diario,
Sólo trazo el eco de sus voces.
Mientras escribo,
El agua traza el nombre de Heráclito en el río.
Para Luis Vidales
Juan Manuel Roca
MONOLOG DES SCHREIBERS
Während ich schreibe,
Kommt ein Indianer den Orinoko flussabwärts
Und liest im klaren Alphabet des Wassers
Das Baumalter, den Schatten des Blattwerks,
Der den Ort in der Welt beschreibt,
An dem er sich befindet.
Während ich schreibe,
Bringen die Wolken und ihre Schattenschrift
Den nackten und tiefen Steinen in den Bergen
Die Leichtigkeit bei.
Alles schreibt in einer verborgenen Sprache, die vielleicht
»Aus demselben Stoff, aus dem Träume sind«, besteht.
Das Licht schreibt mitten im Wald
Und erinnert daran, dass es im Baum
Mehr wache Götter gibt als im Menschen.
Und da ich nicht den Vogelflug lese,
Weder die Sprache des Rotwilds verstehe
Noch die Gespräche der Luft mit der Blume
Oder den Herbst, der die Blätter seines Tagebuchs verweht,
Zeichne ich nur den Widerhall ihrer Stimmen.
Während ich schreibe,
Zeichnet das Wasser Heraklits Namen in den Fluss.
An Luis Vidales
Übertragen von Juana & Tobias Burghardt
Zwei Literaturkonferenzen erweiterten das abwechslungsreiche Festivalprogramm durch ihre poetisch-politische Themenvorgabe: »Was bedeutet in heutigen Zeiten Dichter zu sein? (Bibliothèque Régionale de Safi) und »Kultur als Zuflucht der Menschlichkeit« (Maison de la Presse à Tanger). Gegen Gewalt, Terror, Krieg, Fundamentalismus, Waffengeschäfte, Rassismus und Entmenschlichung wurde allenthalben ein einhelliges Votum für die Einheit in der Vielfalt der Kulturen, Frieden, Humanismus, Dialogbereitschaft und die Freiheit des Wortes abgegeben: »Die Poesie als geistiger Widerstand in der Gegenwart.« (Juan Manuel Roca)
Juan Manuel Roca
MEMORIA DEL CONSTRUCTOR DE RUINAS
En el principio fue la ruina.
Unos extraños, portadores de andamios y plomadas
Empezaron a roerla para volverla casa.
Es como si le pusieran muletas al aire.
Para qué ventanas, si al tumbarlas
Siguen firmes a su vocación de aire
Y tallamos escaleras con peldaños de vacío.
Es prudente construir la ruina antes que la casa.
Poner la pátina antes que el rincón,
Soltar el humo antes de izar la chimenea,
Hacer que el patio libere el horizonte.
Juan Manuel Roca
ERINNERUNG DES BAUHERRN VON RUINEN
Am Anfang war die Ruine.
Seltsame Gerüst- und Lotträger
Begannen, an ihr zu nagen, um sie in ein Haus zu verwandeln.
Es ist, als versähe man die Luft mit Krücken.
Wofür Fenster, wenn sie beim Niederreißen
Ihrer Neigung zur Luft weiterfrönen?
Und wir zimmern Treppen mit Stufen aus Leere.
Es ist sinnvoll, die Ruine eher als das Haus zu bauen.
Erst die Schliere und dann die Ecke anzubringen,
Den Rauch hinauszulassen, bevor man den Schornstein errichtet,
Zu veranlassen, dass der Hof den Horizont befreit.
Übertragen von Juana & Tobias Burghardt
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Tobias Burghardt (Jahrgang 1961) ist Lyriker, Übersetzer und Verleger der Stuttgarter Edition Delta (www.edition-delta.de). Er veröffentlichte mehrere Lyrikbände, darunter seine Fluss-Trilogie sowie »Septembererde & August-Alphabet«. Im Februar erschien seine Werkauswahl »Mitlesebuch 117« (Aphaia Verlag, Berlin/München 2018). Seine Gedichte wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und Einzeltitel erschienen in Argentinien, im Irak, in Japan, Portugal, Serbien, Schweden und Venezuela. Er ist Mitbegründer und Koordinator des »Babylon Festivals für Internationale Kulturen & Künste«, das seit 2012 jährlich in Babylon und Bagdad stattfindet. Mit seiner Frau Juana Burghardt überträgt er lateinamerikanische Lyrik, katalanische Poesie, lusophone Lyrik und spanische Poesie. Sie sind Herausgeber und Übersetzer der Werkreihe von Miquel Martí i Pol, aus der Pep Guardiola im Sommer 2015 im Literaturhaus München las, und seit Herbst 2014 der Stuttgarter Juarroz-Werkausgabe, dem wir das GEDICHT-Motto »Ein Gedicht rettet einen Tag« (Roberto Juarroz) verdanken. Im Frühjahr 2017 wurden beide für ihr jeweiliges poetisches Werk und ihr gemeinsames literarisches Engagement zwischen den Kulturen und Sprachen mit dem Internationalen KATHAK-Literaturpreis in der südasiatischen Metropole Dhaka, Bangladesch, ausgezeichnet. Tobias Burghardt war GEDICHT-Redakteur der ersten Stunde und organisierte immer wieder wunderbare Sonderteile mit lateinamerikanischer Poesie für unsere Zeitschrift DAS GEDICHT.
Alle bereits erschienenen Folgen von »Im babylonischen Süden der Lyrik« finden Sie hier.