LYRIK-REVUE FOLGE 10: AUF DEM GRUND UNGELÖSTER RÄTSEL

Auszeichnungen, Institutionen, Konferenzen, Lesungen, Poesie im Feuilleton und Lyrik-Neuerscheinungen: Nicola Bardola kommentiert und präsentiert am 20. eines Monats Bemerkenswertes aus der Welt der Verse.

 

„Wir waren nicht betrunken“, sagte Jürgen Theobaldy sehr entschieden und mit einem Anflug von Verärgerung, als ich ihn bei den 7. Solothurner Literaturtagen 1985 nach Rolf Dieter Brinkmann fragte, zehn Jahre nach dem Unfalltod. „Es war der Linksverkehr“, sagte mir Theobaldy, „und es war nicht nachts. Es war später Nachmittag und noch hell.“

Ich weiß nicht, seit wann es die vielen Markierungen in London unten auf dem Asphalt gibt: „Look left“, „Look right“. Jedenfalls schaute Brinkmann am 23. April 1975 vor dem Schritt auf die Straße in die gewohnte, diesmal in die falsche Richtung. Er wollte den Westbourne Grove überqueren. Er hatte Hunger und Durst und auf der anderen Straßenseite befand sich der Shakespeare Pub, Westbourne Grove 65, Ecke Garway Road. Brinkmann ging voraus.

Ich stelle mir vor, dass er auch sonst gerne „ein Stückchen voraus“ (Theobaldy) ging, um ein wenig zu dominieren im Gehen. In “Meine geniale Freundin” geht Lila voraus. Lenù folgt ihr. Am Ende verschwindet Lila. Lenù protokolliert. Brinkmann, der Alpha-Dichter, der sich gerade zur Belustigung des Publikums bei der Lesung zwei Tage davor beim Lyrikertreffen in Cambridge beklagt hatte, noch nie von einem Gedicht gefickt worden zu sein, geht voraus, auch in der Wort- und Metaphernwahl.

Voraus gehen und zeigen, wo es lang geht. Die Richtung weisen. Shakespeare im Blick. Anführer spüren die Konkurrenz und kämpfen dagegen an, indem sie sich rasch entscheiden, indem sie Zweifel vermeiden, indem sie voran gehen. Anführer bescheren sich damit Stress und sterben früher. Brinkmann geht „ein Stückchen voraus“ und wird von einem Auto erfasst. Theobaldy kann gerade noch zurückweichen. Brinkmann ist sofort tot, dort am Boden. „Gar nicht so verdreht“, erinnert sich Theobaldy. Heute heißt das Lokal nicht mehr Shakespeare, sondern „65 & King“.

Die Stille zwischen den Jahresdaten

Im März wird Jürgen Theobaldy „75 & King“ – King der deutschsprachigen Innerlichkeit, der alten und neuen Subjektivität in der Poesie und auch in der Prosa (zuletzt „Aus nächster Nähe“ und „Rückvergütung“, beide bei Wunderhorn). Dank „Theo“ hat die Lyrik von den 1970er Jahren bis heute eine poetische Präzision bekommen, die jetzt vielleicht noch treffender ist als damals – „Sperrsitz“ und „Blaue Flecken“ heißen Theobaldys moderne Klassiker. Sein neuester Gedichtband trägt nun den Titel „Auf dem unberührten Tisch – Ein Zyklus“. Es geht um Tod, nämlich um das Leben des lyrischen Ichs nach dem Sterben von Sanae Christen-Inoue, seiner Frau, die eines ihrer Kinder überleben musste. In Theobaldys Band von 2015 „Hin und wieder hin. Gedichte aus Japan“ (Verlag Engstler) hatte sie sechs Haikus veröffentlicht.

Sanae Christen-Inoue starb Ende Mai 2016. Da liegt noch ihr Einkaufszettel auf dem unberührten Tisch, für ihn zuletzt notiert. Er sollte Auberginen und Heidelbeeren besorgen. Es sei die Saison dafür gewesen. Für die Palliativstation, der letzten Adresse vor der allerletzten, gibt es keine Saison. Aus der ersten Nacht danach, nach dem Tod betrachtet, verlieren wichtige, aber in den allerletzten Tagen vergessene Worte ihre Bedeutung. Zurück in der Wohnung versucht Theobaldy ihr Schneidebrett zu lesen, die eingekerbten Spuren im Holz. Das Feuer im Gedächtnis, das alles verbrennt, das flimmernd blaue Kleid und den Sarg auch: „… von vielen Märchen dieses eine, / in dem sie doch gestorben ist, / statt heute noch zu leben.“

Später liegt auch noch die Todesanzeige auf dem Tisch. Im Gedichtband wird der schwarz gerahmte Satz ausgespart: „Nach Monaten, Wochen und Tagen voller Hoffnung ist sie ihrem unheilbaren Leiden erlegen“. Jürgen Theobaldy steht am Friedhof, denkt über das Ende nach, doch der Schmerz verspricht nur einen Zustand ohne Ende: „… ein Ende wäre es, zu vergessen, // ich vergäße sie, vergäße / ihre kalte Hand in meiner Hand.“ Dort das Holzkreuz fürs erste, bald wird es ersetzt werden durch den Grabstein mit ihrem eingemeißelten Namen: „… was dauert, // ist die Stille zwischen den Jahresdaten.“ Es ist dies ein erschütterndes Büchlein der Trauer, sparsamst bewortet wie damals die Haikus der verblichenen, der kalten, der verbrannten und geliebten Frau. Es ist dies ein stilles Manifest des Widerstands gegen das Vergessen, gegen das Vergehen, gegen den Tod.

Das Chaos in einem geschlossenen System

Gegen diese in Ort, Zeit und Wort konzentrierte Gegenwart angesichts des allumfassend Abschließenden des 75-Jährigen Theobaldy wendet sich die diskursive Weitläufigkeit der noch nicht vierzigjährigen Nora Bossong, der Betrachterin auf Reisen in die Vergangenheit und in den Orient unter dem Motto der Ort- und Spurlosigkeit mit dem Gedichtband „Kreuzzug mit Hund“. Mit Bruchstücken manchmal journalistisch anmutender Kommentare zur Tagesaktualität und mit einem beunruhigenden Vorrat an Metaphernmunition schießt sie in die oft verschwiegenen Wunden weltpolitischer Machtinteressen: „… die Lage wird heute durch Mohnanbau bestimmt durch Zeissoptik beschossen …“ Merkmal von Bossongs Wortstrudeln sind in der Tat Auslassungen. An jede Lücke wird das nächste Bild gereiht und irritiert gerade so sehr, dass Alltagssprache gebrochen, dass neue Bedeutungsräume ermöglicht werden.

„Bis ins Haus drang drög ihr Blöken“, heißt es von den Ziegen in „Kurzes Asyl“. Schon schaurig schön ist dieses Bild eines möglicherweise schwindenden Europas zugunsten rupfender Zicklein. Seltsam die unterschwellige und mit Sicherheit von Bossong ungewollte Botschaft: Schon im allerersten Text „Ach Europa“ dominieren die Zweifel an der „Königstochter mit panischer Angst vor Stieren“. Da herrscht eher das Herbeireden des Schwindens und Scheiterns statt des notwendigen und von Bossong außerlyrisch gewollten Abwendens der Auflösung, statt des Festigenden und Stärkenden; es herrscht mehr zweifelhafte Zustandsbeschreibung („Wir muntern sie (Europa) auf und beteuern, dass es einmal gut ausgeht mit ihr“); vernachlässigt wird die zielgerichtete Erkenntnis des zu Erstrebenden. Immerhin: „Kriege hatte sie wie andere Leute Erkältungen“. Später aber im Gedicht „Madrid“ der Auftakt: „Was war schon Europa. Flaggenstoff, / Leinwand und Farbe.“ Der Wunsch nach Untergang, nach der Geschlossenheit von Muscheln auf dem Grund in „Perlmutt und Rhetorik“, die Angst vor dem Es, das da im Garten hockt, „um uns unsre Freiheit heimzuzahlen“ in „Unde malum“. In „Rom“ dann „pneumatologische Träume“: „Der Pulk auf dem Platz probt Prozessionen“. Da sind eloquente Impressionen wie die „Zwei Jahreszeiten“, verfasst mit musikalischem Gespür, meisterlich rhythmisiert und kongruent zwischen Wissenschaft und „Trothas Träumen“ springend, denn „das Chaos in einem geschlossenen System“ nimmt niemals ab bei der Erinnerung an die alte italienische Dame.

Nur das Jenseits denkt sich solches Licht aus

Taumelnd oder Traumland, Kreuzzug oder Kreuzung: Paare für Bossongs „Okzidentien“, für ihr „Lexikon verlegter Bedeutung“. Es dominiert Beschreibendes und darin Historisierendes beispielsweise in provinziellen Museen. In die Touristen-Orte haut Bossong ihre Anders-Worte, ihre „Barockfantasien“ und „Gazellenglasaugen“. Da ist filmische Bewegung, oben und unten, erstarrtes Leben und Kampf gegen Gefrorenes im Westen und im Osten. Mehr als Sand im Falz der Atlanten. So berichtet Bossong aus Europas Städten und Regionen: Auf den Wellen vor Palermo treiben die Federn von Dädalus. Inspirierter wirkt Bossong nach dem Verlassen der Grenzen. In der Grabeskirche in Jerusalem: „Nur das Jenseits denkt sich solches Licht aus“. Und in Jaffa: „Das war die Wand, an der Napoleon die Stadt gebrochen hatte, die Kneipe oben flaggte Grün: Heineken“. Und in Shiraz: „… man geht einem Rätsel / nicht durch seine Lösung auf den Grund.“

 

"Auf dem unberührten Tisch" von Jürgen Theobaldy
Coverabbildung (Verlag Peter Engstler)

 

 

 

 

 

 

Jürgen Theobaldy: Auf dem unberührten Tisch. Ein Zyklus.
28 Seiten, 11 Euro.
ISBN: 978-3-946685-21-0
Verlag Engstler, Ostheim/Rhön, 2019

 

 

 

 

"Kreuzzug mit Hund" von Nora Bossong
Coverabbildung (Suhrkamp Verlag)

 

 

 

 

 

 

 

Nora Bossong: Kreuzzug mit Hund. Gedichte.
101 Seiten, 20 Euro.
ISBN: 978-3-518-42818-4
Suhrkamp Verlag, Berlin, 2018

 

 

 

 

Nicola Bardola. Foto: privat
Nicola Bardola. Foto: privat

Nicola Bardola, 1959 in Zürich geboren, veröffentlichte als Student an der Universität Bern erste Gedichte und schrieb 1984 an der Universität Zürich im Fach Germanistik seine Lizentiatsarbeit über Theorien moderner Lyrik (u. a. zu Nicolas Born, Rolf Dieter Brinkmann, Jürgen Theobaldy). Seither lebt er in München, wo er seine Kolumne »Lyrik Revue« zunächst für das Münchner BuchMagazin betreute und für die Süddeutsche Zeitung schrieb. Er veröffentlichte Gedichte in Zeitschriften und Anthologien, übersetzte Eugenio Montale ins Deutsche und war Mitbegründer der Initiative Junger Autoren (IJA).

Alle bereits erschienenen Folgen von »Lyrik-Revue« finden Sie hier.

Ein Kommentar

  1. Lieber Anton,
    ungelöste Rätsel auch zwischen uns, ich glaube, wir hätten da Unverständliches zu berichten.

    Bin immer noch unverrückt an Deiner Seite, nicht nur der Tod ist groß, auch Freundschaften, denke ich post Rilke, und sehe immer wieder mal die Überdeckungen.

    Freue mich still darüber.

    Und auch der Theobaldy – für uns im Banat in seiner frühen zeit schon eine Kultfigur, seiner Gedichte, sein “Sonntagskino”, das uns in unseren verlorenen Banater Dörfern perfekt porträtierte, nicht zu vergessen seine bahnbrechende Anthologie “Und ich bewege mich doch”, programmatisch gelesen und befolgt von uns, sehr zum Zorne des Regimes.

    Ja, wir haben gemeinsame Freunde, Wunderhörner auch, aber getroffen haben wir uns nie, trotz meiner zweiten, rund anderthalbjährigen schönen Heimat Heidelberg, aus der mich der Lauf um den Brotlaib entfernte. Daher kann ich meiner Bewunderung für den mir wohl bekannten unbekannten Dichter bedenkenlos freien Lauf lassen und ihn und Dich grüßen als alter Grabenkrieger auf dem Felde der Lyrik, auch Dir danken, für das, was du tust!

    Herzlichst in alter Verbundenheit,
    Horst S.

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