LYRIK-REVUE FOLGE 19: Eine Oneironautin krankt an, als fädele ihr einer Sinn bei

Auszeichnungen, Institutionen, Konferenzen, Lesungen, Poesie im Feuilleton und Lyrik-Neuerscheinungen: Nicola Bardola kommentiert und präsentiert am 20. eines Monats Bemerkenswertes aus der Welt der Verse.

 

Saskia Warzecha, Traumreisende in Wortfeldern der Wissenschaft, irritiert in den ersten beiden Teilen ihres Debütbandes „Approximanten“ ihre Leser bis zur Schmerzgrenze. Im dritten Teil „Diphthonge“ hingegen werden ihre Denkbewegungen vertrauter. Da gibt es deutlicher als davor das Gegenüber: „auf welchem level treffen wir uns, so ganz entzerrt? du koryphäe, kannkind. (…) sag, rahmen-widersacher, wieso hast du so übergroße gliazellen? veränderst taktische bewegungen. unvollständige besatzung, als fädelte mir einer sinn bei.“ Der Ich-Erzählerin wird unzuverlässig aber ständig Nachvollziehbares zugänglich gemacht. Eine „stets vorläufige Gegend“ macht sich hier bemerkbar. Sie „prangert, krankt an“. Botanische Samen, wahrheitswidrige Wände, einseitig anerkannte Länder: Privates und Politisches mischt sich. Eine Frage wird zunächst als abschätzig definiert, worauf jedoch die Frage formuliert wird, wieso eine Antwort das Verhängnis jeder Frage wäre.

Porträtfoto von Saskia Warzecha
Saskia Warzecha – Foto: Dirk Skiba

Sprachkritisch und selbstkritisch nähert sich Warzecha ihrem Du, grenzt das sprechende Ich davon ab, funktioniert Substantive in Verben um, springt auf den Perspektiven hin und her und lässt nicht zuletzt die Leser raten, wenn ein Gedankenstrich das Wort ersetzt. So dichtet Warzecha ihre Leser schwindlig und findet zu fabelhaften Formulierungen: „entfädelte betonung, silbisch“, „landen, ohne aufzusetzen“, „ich habe immer genau das gemeint, was hier kapituliert“, „die angst. weil keine größere fläche beim auffalten entsteht, falte ich die briefe klein.“

Das Wechselspiel von Norm- und Fachsprachen zeigt sich bei der Wortwahl. Gegensätze und Paare verstärken die Spannungen in den aufgefächerten Texten. Granularitäten stehen neben Mitmenschsein, Geheimloop neben Inselstaat, Strukturspur neben Empfindsamkeitsrausch, Koordinationen (als Listen gedacht) neben Trost- und Stoßfalten, Schwebstoffe neben Kalendermathematik, Oneironautik neben Schallwellenverebbung, Nahverkehrsansagen neben instanziierten Exit Signs, Formenkonvolut neben einem Bumerang im Schwerelosen, Klangcluster neben Tanklaster, Zerwurzelung neben Zuckerrand, inkrementelles Erfassen neben rückwärtskompatiblen Systemen, Suchumfeld neben Achsenglück, Fraktale neben Nachkommastellen.

Im zweiten Teil „Prüfautomat“ (er gehört der Dichterin und spricht Bände) befinden wir uns in einem „Maschinenraum“, den wir beherrschen sollten. Warzecha poetisiert verstärkt Wissenschaftssprache. In einem Sammelumriss liegen Kapazitäten, ein Schwellenwert entspricht einer hypothetischen Apparatur. Die Sprecherin kalibriert Substanz und gerät angesichts von Zärtlichkeiten in lyrisches Stottern: „skelettales wagnis. j : zwei punkte auf die mittelfingerspitze, x : querstrich übers handgelenk. muttersprachen sind verwandte formen der gebärde, gesten werden abgetastet. sch : leichtes umfassen der vier finger. in der zärtlichkeit liegt die geste (nicht umgekehrt). lärm hält mich ab. will sagen zwar.“ Das Buch lässt sich auch lesen als Träume der schlafenden Logikerin Warzecha.

Im ersten Teil „Approximanten“ trägt das Ich stets die Wasserflasche einer Ertrunkenen bei sich. Das Ich ist hier ein Buch, das Angst hat umzukippen. Saskia Warzecha wurde 1987 in Peine geboren, studierte Computerlinguistik in Potsdam, anschließend Sprachkunst an der Universität für Angewandte Kunst Wien und Literarisches Schreiben am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Sie war 2016 Finalistin beim 24. Open mike, gewann 2017 den Münchner Lyrikpreis und erhielt 2019 das Arbeitsstipendium des Berliner Senats. Sie ist Herausgeberin der Lyrikzeitschrift „Transistor – Zeitschrift für zeitgenössische Lyrik“, gab die „Tippgemeinschaft 2016“ und die Lyrikanthologie „Ansicht der leuchtenden Wurzeln von unten“ (poetenladen, 2017) heraus und leitete die Lyrikredaktion im STILL Magazine. Vor diesem Hintergrund treibt sie ihre Sprachforschungen voran. Sie lässt ihre Leser Erzähl-Anlässe erkennen, lässt Leerstellen stehen, lässt Wortfelder sich verweben, lässt Reibungen zu und lässt Kontraste kollidieren, um ihre Umgebung und die Ereignisse darin wissenschaftlich streng oder traumwandlerisch tastend in Worte zu fassen. Sie singt nicht. Das sind keine Lieder. Die Texte sind in Blocksatz gedruckt. Die Leser denken sich den Zeilenumbruch selbst.

 

"Approximanten" von Saskia Warzecha
Coverabbildung (Verlag Matthes & Seitz, Berlin)

 

 

 

 

 

 

 

Saskia Warzecha
Approximanten
Matthes & Seitz, Berlin
64 Seiten, 16 Euro
ISBN: 978-3-95757-915-7

 

 

 

 

 

Nicola Bardola. Foto: privat
Nicola Bardola. Foto: privat

Nicola Bardola, 1959 in Zürich geboren, veröffentlichte als Student an der Universität Bern erste Gedichte und schrieb 1984 an der Universität Zürich im Fach Germanistik seine Lizentiatsarbeit über Theorien moderner Lyrik (u. a. zu Nicolas Born, Rolf Dieter Brinkmann, Jürgen Theobaldy). Seither lebt er in München, wo er seine Kolumne »Lyrik Revue« zunächst für das Münchner BuchMagazin betreute und für die Süddeutsche Zeitung schrieb. Er veröffentlichte Gedichte in Zeitschriften und Anthologien, übersetzte Eugenio Montale ins Deutsche und war Mitbegründer der Initiative Junger Autoren (IJA). Zuletzt erschien von ihm „Elena Ferrante – Meine geniale Autorin“ im Reclam Verlag.

Alle bereits erschienenen Folgen von »Lyrik-Revue« finden Sie hier.

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