Lyrik-Revue – Folge 4: Politik und Poesie

Auszeichnungen, Institutionen, Konferenzen, Lesungen, Poesie im Feuilleton und Lyrik-Neuerscheinungen: Nicola Bardola kommentiert und präsentiert am 20. eines Monats Bemerkenswertes aus der Welt der Verse.

 

Die politische Wirkung von Lyrik lässt sich schwer messen, aber wie sehr sie gesellschaftliche Stimmungen aufnehmen und verstärken kann, zeigte sich anlässlich der Großdemonstration #ausgehetzt in München am 22. Juli 2018. Vor Tausenden von Menschen (die Veranstalter schätzen 40.000 Zuhörer) las der in Kochel geborene Autor Friedrich Ani sein Gedicht »Taggedanken«, das an seine Eltern erinnert und Bezug nimmt auf die nicht nur sprachlich verrohende Debatte im Umgang mit Geflüchteten.

Die Partei »Christlich Soziale Union« hatte davor ein Verhalten an den Tag gelegt, das Menschen zur Fremdenfeindlichkeit anstachelt. Dagegen geht Friedrich Ani mit sehr persönlichen Worten an: »Denk ich an Deutschland Tag um Tag, / fällt mir mein Vater ein, der Deutscher war, / obwohl sein Land am Euphrat lag. / Er lernte tausend Wörter Jahr für Jahr.« Wenn Friedrich Ani an seinen Vater denkt, dann auch an seine Mutter, das Flüchtlingskind. Anis Vater blieb ihr treu, arbeitete in Deutschland als Arzt, half Deutschen ihre Schmerzen zu lindern. Dann erinnert Ani an die Geburt: »Nach Ankunft ist ein jeder fremd, / im ersten Augenblick in Mutters Arm. / Am Anfang sind wir ungekämmt / und nackt und jemand Fremdes hält uns warm.« Alle 40.000 wussten, dass es auch um das Ankommen im neuen Land geht, um unsere Verpflichtung, Flüchtenden zu helfen. »Und einer wird ein Vater werden / wie meiner damals, und aus Liebe bleiben.«

Zehn Tage vor dieser Großdemonstration, am 13. Juli 2018, hatte die Abendzeitung München auf fast einer ganzen Seite Friedrich Anis wuchtiges Gedicht »Ich glaube« gedruckt, das im Agitprop-Stil geschrieben ist und mit den Worten beginnt: »Ich glaube nicht an Horst Seehofer«. Wir auch nicht. Die Online-Ausgabe der Abendzeitung bekam rund 1.000 zustimmende Bewertungen und die Redaktion der Abendzeitung so viele Leserbriefe wie selten, davon 80 Prozent im Glauben Anis, der damit gezeigt hat, wie politisch Poesie heute ist, wenn sie will.

Brücke zum Kanon

Nora Gomringer und Martin Beyer haben den Band »#poesie« herausgegeben, der dem Klischee entgegenwirken will, Lyrik sei anstrengend und schwer zu erschließen. Slammer, Songwriter oder Rapper kommen auch zu Wort. Nach einer flotten, witzigen und prächtig von Reimar Limmer illustrierten Einführung in die Epochen und großen Themen der Poesie eröffnen die Herausgeber die Anthologie mit dem 1992er Song von Advanced Chemistry (AC), den Hip-Hop-Pionieren aus Heidelberg, »Fremd im eigenen Land«, die Kampfansage gegen Vorurteile und Rassismus. Der Rhythmus in den Zeilen reißt die Leser auch ohne Gesang mit. Der Pass mit dem Adler drauf wird hinterfragt. Das Staunen hier im Lande, wenn ein Afro-Deutscher die Sprache besser spricht als der blasse Landsmann. Nicht anerkannt, fremd in der eigenen Heimat, kein Ausländer – und doch anders. Leider hat das Lied kein bisschen an Aktualität verloren. Rote Hashtags am Ende jedes Gedichts fordern zum Weiterdenken und Vernetzen auf: #politischesgedicht #deutschlandlied #heine #fremderpass #asylbewerber #rassismus #vorurteile und viele mehr.

Die Anthologie ist ein Wechselbad der Gefühle, denn auf AC folgt Heimrad Bäckers Text »9228 von sedziszow«. Es ist der Fahrplan vom 15. September 1942: »Sonderzüge für Umsiedler«, die alle nach Treblinka fahren. Mit den entsprechenden Nummern stehen die Rückfahrten: »Leerzug«. Die Hashtags u. a.: #keingedichtnachauschwitz #holocaust #genozid #konkretepoesie. Dieser harte Auftakt zur Anthologie ist Zufall, weil sich die Herausgeber zu einer alphabetischen Reihenfolge entschlossen haben.

Dieses Prinzip wirft die Leser später thematisch noch weiter hin und her, bringt ihn ruckartig zur Natur und zur Liebe und zu vielem mehr. Das Buch will von heutigen Texten eine Brücke zum lyrischen Kanon schlagen. Das gelingt. Kästners »Lyrische Hausapotheke« oder Enzensbergers »Museum der modernen Poesie« werden so fortgesetzt. Eugen Gomringer, der Vater der Herausgeberin, veröffentlichte 1953 erstmals das Gedicht »Avenidas«. Der Streit, den die acht Wörter dieses Gedichts in jüngster Vergangenheit auslösten, hat zum Buch »Poema« geführt.

Falsches Schulterklopfen

Konkrete Poesie kann an ganz unerwarteten Orten politisch werden. Darauf weisen Beiträge in dem Prachtband »Poema – Gedichte und Essays« hin. Anlass für die Veröffentlichung war nicht nur die umstrittene Aktualität der »avenidas y flores«, sondern auch die Würdigung des Raums »poema« im Kunsthaus Rehau, wo man den wichtigsten Gedichten Gomringers optisch neu begegnet. Sie motivierten Kollegen wie Zsuzsanna Gahse, Franz Hohler, Walter Jens, Michael Lentz, Kurt Marti, Peter von Matt, Oskar Pastior und andere dazu, über Gomringers Wortgebilde nachzudenken. Das Darstellungsmuster im Buch ist gut gewählt: Erst kommt, großzügig gesetzt und auch farblich abgehoben, eine der legendären Wortfolgen oder Wortkonstruktionen, zu denen anschließend der Schöpfer Hintergründe verrät, wonach Dichterfreunde und Kritiker ihre Sichtweisen darlegen.

Einmal schreibt auch die Tochter: »Der Text ist – dabei bleibe ich – null agitativ«, so Nora zu Vaters unter Sexismusverdacht stehenden Prachtstraßen-Gedicht, das auf der Fassade der Alice-Salomon-Hochschule in Berlin geschrieben stand. Es sei beachtlich, was man in diese sechs Worte hineinlesen könne. Weiter irritierend: Auf einmal klopften der Feministin Nora Gomringer AfD-Politiker auf die Schulter, »augenzwinkernd quasi«. Wie ein Kurztext zum Politikum wurde und was das bedeuten könnte, lässt sich hier verfolgen.

Politisch lesen lassen sich mehrere Texte Eugen Gomringers. Man stelle sich nur »chumm« an irgendeiner anderen Hochschule vor oder gar an einem Grenzübergang, groß an der Fassade eines Zollhauses. Auf Schweizerdeutsch zwar, aber gut verständlich auch für Deutsche: »chumm / chumm chumm / chumm nu / chumm ume / chumm numenume / chumm nu ume // chasch cho / chum chasch cho / chunsch // chumm gang / gang gang / gang nu / gang nume / chumm nüme / chumm nümenume / haus«. Haus meint nicht das Gebäude, sondern »hau ab«, »verschwinde«. Klopfen bald wieder AfD-Politiker den Gomringers auf die Schultern? Orte verändern Texte. Texte verändern Orte. Nur Worte? Macht den Gedichten!

 

Link zu Friedrich Anis »Ich glaube«, Abendzeitung München: https://www.abendzeitung-muenchen.de/inhalt.bestseller-autor-schreibt-in-der-az-friedrich-ani-seehofer-ist-ein-unchrist.1e35ce4a-747b-4492-9f51-3af276831223.html

 


Nora Gomringer, Martin Beyer (Hg.)
#poesie

Voland & Quist, Dresden 2018
128 Seiten
20 Euro
ISBN 978-3-863911-97-3

 

 

 

 

 


Eugen Gomringer
#poesie

Gedichte und Essays
Herausgegeben von Nortrud Gomringer
Nimbus Verlag, Wädenswil am Zürichsee 2018
212 Seiten
29,80 Euro
ISBN 978-3-0385-0047-6

 

 

 

 

Nicola Bardola. Foto: privat
Nicola Bardola. Foto: privat

Nicola Bardola, 1959 in Zürich geboren, veröffentlichte als Student an der Universität Bern erste Gedichte und schrieb 1984 an der Universität Zürich im Fach Germanistik seine Lizentiatsarbeit über Theorien moderner Lyrik (u. a. zu Nicolas Born, Rolf Dieter Brinkmann, Jürgen Theobaldy). Seither lebt er in München, wo er seine Kolumne »Lyrik Revue« zunächst für das Münchner BuchMagazin betreute und für die Süddeutsche Zeitung schrieb. Er veröffentlichte Gedichte in Zeitschriften und Anthologien, übersetzte Eugenio Montale ins Deutsche und war Mitbegründer der Initiative Junger Autoren (IJA).

Alle bereits erschienenen Folgen von »Lyrik-Revue« finden Sie hier.

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