Neugelesen – Folge 36: Ai Qing »Schnee fällt auf Chinas Erde. Gedichte«

Literatur ist vergänglich, trotz ihrer Materialität. Denn allmählich entschwinden Bücher in Archivbibliotheken und verlassen unseren Erfahrungshorizont. David Westphal möchte in Nachfolge an die Kolumne »Wiedergelesen« dagegen anschreiben. Er stellt an jedem 15. des Monats Vergessenes und Neugelesenes in seiner Rubrik »Neugelesen« vor (in memoriam Erich Jooß, † 2017).

 
 
Ich ringe. Mit den Worten. Mit den Vorurteilen. Mit meinem beschränkten Wissen über China. Mit geteilten Meinungen, gemischten Medienberichten, verwirrender Außenwirkung und weiten Entfernungen. Ich ringe mit meiner Vorliebe für Marx‘sche Kapitalismuskritik und Chinas Marx. Mit Lenin, Mao; mit China.
 
Ich suche. Nach Gemeinsamkeiten. Nach Antworten und den richtigen Fragen. Nach authentischen Eindrücken und tiefen Beziehungen. Nach Linien und nach der Vielfalt eines Landes, sowie der Einfalt der Politik. Nach Perspektiven, die meine Vorurteile zertrümmern. Ai Qings Gedichte könnten Halt sein während des Ringens, könnten Spuren sein auf meiner Suche.
 
Ai Qing, das ist der 1910 geborene und 1996 verstorbene Vater des chinesischen Konzeptkünstlers Ai Weiwei. Während sein Sohn auch in Deutschland hinlänglich bekannt sein dürfte – man denke an die Zusammenarbeit zwischen Hornbach und Ai Weiwei –, ist die Person Ai Qing und seine Lyrik weitestgehend fremd. Dabei ist Ai Qing Mitbegründer der sogenannten Neuen Lyrik Chinas (Xin Shi) und unter Literaturinteressierten eine zentrale Gestalt des letzten Jahrhunderts. Im sehr informativen Nachwort der Übersetzerin Susanne Hornfeck erfährt man, dass die Lyrik vor Xin Shi vor allem elitär war: Sie hatte ihre eigene Hochsprache, war durchzogen von historischen und intertextuellen Anspielungen und eine Beschäftigung nur für Eingeweihte, geradezu esoterisch.
 
Ai Qings Lyrik ist bedeutend anders. Im Alter von 18 Jahren begann Ai Qing ein Studium der Malerei an der Kunstakademie von Hangzhou, das er von 1929 bis 1932 in Paris weiterführte. Dort kam er in Berührung mit der Malerei, der Dichtung und der Philosophie Mitteleuropas, die seine Lyrik stark geprägt hat. Statt der gehobenen wenyanwen (dem klassischen Chinesisch) schrieb er, wie er sprach. Prosaisch. Keine Reime, keine starren Rhythmen, festgelegten Formen oder Reimschemata. Literaturhistorisch ließe sich nicht so einfach entscheiden, ob Ai Qings Lyrik nun europäischer Moderne oder chinesischer Moderne zuzuordnen sei. Es spielt auch keine Rolle, denn sie bewegt sich dazwischen und darüber hinaus. Vieles hat biographische Bezüge, Bezüge zum China im Wandel und Ai Qings windungsreichem Leben.
 
Das Dazwischen seiner Lyrik speist sich auch vom Dazwischen seiner persönlichen, politischen Haltung. Stark energetisiert von kommunistischen Ideen stand er mit Leib und Leben gegen das alte China. Im kommunistischen China angekommen, polarisierte er und wurde mit einem Schreibverbot bis 1979 verbannt. Trotz dessen war er überzeugter Anhänger der neuen, politischen Linie Maos. Diese scheinbaren Widersprüchlichkeiten projizieren sich im Ringen und Suchen der Gedichte von Ai Qing und werden von mir als Einladung für mein eigenes Ringen und Suchen angenommen.
 
Der bei Penguin erschienene Band versammelt ein breites Spektrum seines Schaffens zwischen frühkindlichen Erfahrungen mit seiner Amme Dayanhe (eines seiner berühmtesten und eindrücklichsten Gedichte); und einem widerständigen Gedicht über die Berliner Mauer von 1979. Der Band verbietet sich auch nicht ein paar (wenige) kritische Töne über die Parteitreue und die in diesem Zusammenhang entstandenen Poeme. Die Übersetzungen scheinen mir mit sehr viel sprachlichem Feingefühl erarbeitet zu sein, was ein großer Verdienst von Susanne Hornfeck ist. Gerahmt werden die Gedichte von einem Vorwort seines Sohnes Ai Weiwei, Auszügen aus den Notizen Ai Qings und Kommentaren, sowie dem Nachwort der Übersetzerin. Was für ein erfolgversprechender Versuch, Ai Qings Lyrik zurück nach Mitteleuropa zu bringen, wo ein Teil seiner künstlerischen Wurzeln – der in der Lage sein könnte, so manche Mauern gen Osten aufzusprengen – noch immer unbemerkt wuchert.
 
 

"Schnee fällt auf Chinas Erde. Gedichte" von Ai Qing
Buchcover-Abbildung (Penguin Verlag)

 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
 
Ai Qing: Schnee fällt auf Chinas Erde. Gedichte
Aus dem Chinesischen von Susanne Hornfeck;
Penguin Verlag, 2021;
144 Seiten, Hardcover;
ISBN: 978-3-328-60242-2
 
 
 

David Westphal. Foto: Volker Derlath
David Westphal. Foto: Volker Derlath

David Westphal, geboren 1989 in München, wo er auch lebt. Studium der Philosophie, Germanistik, Literatur- und Kulturtheorie zu Gießen und Tübingen. Gedichtveröffentlichungen in verschiedenen Anthologien.
Alle bereits erschienenen Folgen von »Neugelesen« finden Sie hier.

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