Gedichte für Kinder – Folge 24: Sieben unveröffentlichte Kindergedichte von Franz Hohler

Uwe-Michael Gutzschhahn präsentiert jeweils am 10. eines Monats auf DAS GEDICHT blog faszinierende Kindergedicht-Autoren mit ihren vielfältigen Spielarten der Kinderpoesie. Denn das Kindergedicht soll lebendig bleiben – damit aus jungen Gedichtlesern neugierige Erwachsene werden, die sich an die Klänge und Bilder der Poesie erinnern, statt an die Last der didaktischen Lyrikinterpretation.

 

Der Geier

Ein Südtiroler Lämmergeier
Der brütete die falschen Eier

Und als die erste Schale krachte
Kam es anders, als er dachte:

Aus den Eiern schlüpften Affen!
Das macht dem Geier schwer zu schaffen.
 

Zwei Krähen

Zwei Krähen hatten ständig Streit.
Die eine wollte nach Kuweit
Die andre rief: »Zu weit! Zu weit!
Komm lieber nach Amerika!«

Die andre rief: »Zu nah! Zu nah!«
So lagen sie sich in den Haaren
Und blieben einfach, wo sie waren.
 

Kleine Taube

Eine dumme kleine Taube
Verschluckte einmal eine Schraube.

»War’s gut?«, so fragt sie ihre Mutter.
»Na ja, es fehlte bloß die Butter.«
 

Ein Rabe

Ein Rabe hatte einen Traum:
Er hockte statt auf einem Baum

Auf dem Masten eines Schiffes
Und fuhr hinaus aufs weite Meer.

Er wachte auf, und er begriff es:
Es war ein Traum, nicht mehr.
 

Murmeltier

Ein dickes altes Murmeltier
Fand einmal eine Dose Bier.

Es ging sogleich zu sich nach Haus
Und trank die ganze Dose aus.

Dann schlief es ein mit tiefem Schnauf
Wacht erst im Frühling wieder auf.
 

Der Bahnhofspatz

Ein kleiner frecher Bahnhofspatz
Der hatte seinen festen Platz

Auf einer großen Abfahrtstafel
Fraß Pizza, Sandwich und Falafel

Und kannte Züge, Zeiten, Gleise.
Da traf er einmal eine Meise

Die war so hübsch und war noch ledig
Und beide fuhren nach Venedig.
 

Ein Reh

Ein Reh geriet in ein Gewitter
Und meldete sofort auf Twitter:

Ich steh im Wald in tiefster Nacht
Und höre, wie es ringsum kracht!

Soeben ging mein Kind verloren:
Getupfter Rücken, lange Ohren.

Ich warte auf den nächsten Blitz
Dann finde ich vielleicht mein Kitz.
 

© Franz Hohler

Franz Hohler zählt zu den bedeutendsten Autoren der Schweiz. Er hat Romane und Erzählungen für Erwachsene und Kinder geschrieben. Viele seiner Texte zeichnen sich durch abgründigen Humor und eine skurrile Komik aus. Nicht umsonst war er jahrelang mit eigenen Kabarett-Programmen auf Reisen. Zu seinen schönsten Kinderbüchern zählen der Geschichtenband »Das große Buch« (2009) und der äußerst erfolgreiche Gedichtband »Es war einmal ein Igel« (2011). Franz Hohler lebt und arbeitet in Zürich.

Uwe-Michael Gutzschhahn. Foto: Volker Derlath
Uwe-Michael Gutzschhahn. Foto: Volker Derlath

Uwe-Michael Gutzschhahn, Jg. 1952, lebt in München und hat an der Universität Bochum über den Lyriker Christoph Meckel promoviert. Seit 1978 hat er zahlreiche eigene Gedichtbände veröffentlicht, u. a. »Fahrradklingel« (1979), »Das Leichtsein verlieren« (1982) und »Der Alltag des Fortschritts« (1996). Zwischen 1988 und 1991 gab er die 12-bändige Kinder-Taschenbuchreihe »RTB Gedichte« mit Texten u. a. von Ernst Jandl, Oskar Pastior, Friederike Mayröcker und Sarah Kirsch heraus. 2003 folgte die Anthologie »Ich liebe dich wie Apfelmus«, die er mit Amelie Fried zusammenstellte und die gerade in einer Neuausgabe wiederaufgelegt wurde. Sein erster eigener Kindergedichtband folgte 2012 unter dem Titel »Unsinn lässt grüßen«. Und im Herbst 2015 erschien seine große Nonsenslyrik-Anthologie »Ununterbrochen schwimmt im Meer der Hinundhering hin und her.«

Alle bereits erschienenen Folgen von »Gedichte für Kinder« finden Sie hier.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert