Im babylonischen Süden der Lyrik – FOLGE 86: »›Abya Yala‹: Neue indigene Poesie – Elvira Espejo Ayca (Quechua / Aymara)«

Tobias Burghardt flaniert jeweils am 5. eines Monats auf DAS GEDICHT blog durch die südlichen Gefilde der Weltpoesie. In der Rubrik »Im babylonischen Süden der Lyrik« werden Sprachgemarkungen überschritten und aktuelle Räume der poetischen Peripherien, die innovative Mittelpunkte bilden, vorgestellt.

 

»Abya Yala«: Neue indigene Poesie – Elvira Espejo Ayca (Quechua / Aymara)

»Abya Yala« bezeichnet in der indigenen Sprache Kuna, die zur Chibcha-Sprachfamilie gehört, die weiten Räume ihrer Erde, »Land in voller Blüte« oder »Land des Lebens« – also vor den europäischen Seefahrern, d.h. aus vorkolonialen Zeiten – und wird heutzutage in ganz Lateinamerika als kontinentale Selbstbezeichnung verwendet.

Die indigenen Menschen von Abya Yala sprechen, dichten, singen und träumen seit jeher in zahlreichen Sprachen wie u.a. Aymara, Guaraní, Kuna, Mapudungun, Maya, Nahuatl, Pemón, Quechua.

Nachdem die UNESCO 2019 zum »Jahr der indigenen Sprachen« erklärt hatte, siehe auch »Im babylonischen Süden der Lyrik« Folge 42, wurde – quasi im Anschluss daran – zu Beginn des vergangenen Jahres das »Jahrzehnt der indigenen Sprachen (2022–2032)« verkündet.

Die neue indigene Lyrik Lateinamerikas setzte im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts ein und hat ins 21. Jahrhundert hinein eine naturverbundene und innovative Stimme innerhalb der zeitgenössischen Poesie hervorgebracht. Ihre Begründer und Grundpfeiler sind der zweisprachige guatemaltekische Maya-Dichter Humberto Ak’abal (1952–2019), siehe auch »Im babylonischen Süden der Lyrik« Folge 5, Folge 6, Folge 43 und Folge 68, sowie der zweisprachige chilenische Mapuche-Dichter Elicura Chihuailaf, siehe auch »Im babylonischen Süden der Lyrik« Folge 70.

Elvira Espejo Ayca (Quechua / Aymara)

Die dreisprachige indigene Poetin, Essayistin, Musikerin, Weberin, Künstlerin und Museumsleiterin Elvira Espejo Ayca aus Bolivien wurde mit der Goethe-Medaille 2020 ausgezeichnet. Sie schreibt sowohl in ihrer Vatersprache Quechua als auch in ihrer Muttersprache Aymara, bevor sie sich selbst ins bolivianische Spanisch übersetzt und spanischsprachige Parallelversionen verfasst. Die autochthonen Sprachen Aymara und Quechua sind bei Elvira Espejo Ayca, die 1981 im Ayllu Qaqachaka bei Oruro im südwestlichen Hochland Boliviens geboren wurde und dort mehrsprachig aufwuchs, unmittelbar vorhanden.

Die bolivianische Quechua-Aymara-Dichterin Elvira Espejo Ayca
Die bolivianische Quechua-Aymara-Dichterin Elvira Espejo Ayca (Foto: Enrique Hernández-D’Jesús, Caracas / Edition Delta, Stuttgart)

Ihre indigene Verskunst ist frisch, schlicht, dynamisch und sensibel für eine integrale Sichtweise – mit diversen musikalischen Elementen, die teils archaisch, wenngleich konkret verortet sind, und kraftvoll tönen. Eine poetische Archäologie der andinen Sprachen Quechua und Aymara, ihrer Rhythmen, Klänge und Lieder, die darüber hinaus Erkenntnisse über die frühere Geschichte der indigenen Identität bereithält, die längst verlorengegangen zu sein schien, obgleich sie weiterhin synkretistisch existiert.

Die extreme Lebenswelt des weiten Altiplano, der Hochtäler und frostigen Bergpässe lässt zu einer erfahrbaren Selbstwirksamkeit gelangen, die beim Höhenbergsteigen als »Selbstmächtigkeit« und Verbindung mit »der eigenen Urnatur«, »etwas sehr Archaisches« (Reinhold Messner), bezeichnet wird, wobei die präzisen Kenntnisse der ureigenen Kräfte und ihrer Grenzen hilfreich sind: »Dornen des Todes, / Grenzen des Todes, / fragt mich nicht mehr / nach dem Haus des Todes.« (Elvira Espejo Ayca)

Der integrierte Zusammenklang mit der Natur, sei sie noch so karg und unwirtlich, kündet bei Elvira Espejo Ayca vom universellen Blick der indigenen Weltweisheiten, die aus vorkolonialen Zeiträumen in die Gegenwart der globalen Krisen harmonisierend hineinwirken.

Elvira Espejo Ayca verbrachte ihr Kindheit im Ayllu Qaqachaka, wo sie das traditionelle Textilhandwerk von ihrer Aymara-Mutter und -Großmutter erlernte, und ging danach in der 60 km entfernten Provinzhauptstadt Challapata (Prov. Eduardo Abaroa) zur weiterführenden Oberschule. Im Jahr 2004 zog sie eigenwillig nach La Paz und studierte dort Kunstwissenschaften an der »Academia Nacional de Bellas Artes Hernando Siles«.

Die fünfundzwanzigjährige Dichterin debütierte 2006 mit dem Aymara-Gedichtzyklus »Phaqar kirki – Canto a las flores« (»Gesang an die Blumen«) und nahm damit 2007 am »IV Festival Mundial de Poesía« (IV. Weltfestival der Poesie) in Caracas, Venezuela, teil. 2013 veröffentlichte sie den Quechua- und Aymara-Lyrikband »Kaypi jaqhaypi – Por aquí, por allá« (»Hier und dort«) mit jeweils zwei sich abwechselnden Gedichtzyklen in Quechua und Aymara sowie sämtlichen spanischsprachigen Parallelversionen, ebenfalls im Verlag Editorial Pirotecnia in La Paz. Jener Band gab bereits im Schlusskapitel einen Vorgeschmack auf ihren Aymara-Folgetitel »Kirki qhañi – Petaca de las poéticas andinas« (»Andines Liederbündel«), der Anfang 2022 im Verlag Editorial El Cuervo, La Paz, herausgekommen ist. Seit 2013 leitet Elvira Espejo Ayca – mit kurzer, ungewollter Unterbrechung – das bolivianische Museum für Ethnographie und Folklore (MUSEF) im historischen Stadtkern von La Paz.

Die bolivianische Dichterin Elvira Espejo Ayca erarbeitete über ein Jahrzehnt die über Jahrhunderte überlieferten Gesänge und Lieder auf Alt-Aymara, die sie schon als Kind in ihrem Ayllu Qaqachaka gehört und mitgesungen hatte, für ihr »Andines Liederbündel«: »Kirki qhañi – Petaca de las poéticas andinas«, das die poetischen Singverse und ihre andinen Poetiken in einem tragbaren Stoffbündel versammelt, damit sie nicht in Vergessenheit geraten.

Wer die altehrwürdigen Aymara-Lieder von ihr gesungen hört, die auf dem YouTube-Kanal »Elvira Espejo Ayca« zu finden sind, wird gleichsam entführt in einen magischen Einklang von Mensch und »Pachamama« (Mutter Erde, Mutter Welt, Mutter Kosmos) – trotz aller fortschreitenden Fragmentierung.

Sind wir indes fähig, das eurozentrische Verständnis von Kunst, Rezeption und Geschichte zu überwinden und ihre jüngere Stimme innerhalb der indigenen Poesie, die zu den innovativen Literaturen der Peripherie gehört, weniger als entlegen oder exotisch aufzufassen, sondern viel eher als eine ureigene Ästhetik des poetischen Ausdrucks, eine andine Archäologie von Sprache und Erkenntnis, ein innewohnendes Terroir von Lied, d.h. Sozial-Gestaltung, und Sein, d.h. individueller Freiheit?

Auf Lyrikline sind neuerdings auch einige ihrer Gedichte (von ihr gelesen) zu hören und multilingual zu lesen.

 

"Hier und dort & Andines Liederbündel" von Elvira Espejo Ayca
Buchcover-Abbildung (Edition Delta)

 

»Kaypi jaqhaypi & Kirki qhañi – Por aquí, por allá & Petaca de las poéticas andinas – Hier und dort & Andines Liederbündel«
Gedichte, viersprachig: Quechua / Aymara – Spanisch – Deutsch«
von Elvira Espejo Ayca
bei Edition Delta

 

 

Tobias Burghardt. Foto: privat
Tobias Burghardt. Foto: privat

Tobias Burghardt (Jahrgang 1961) ist Lyriker, Essayist, Übersetzer und Verleger der Stuttgarter Edition Delta (www.edition-delta.de). Er veröffentlichte den Essayband »Ein Netz aus Blicken. Essays für lateinamerikanische Lyrik« und mehrere Lyrikbände, darunter seine Fluss-Trilogie sowie »Septembererde & August-Alphabet«. Zuletzt erschien seine Werkauswahl »Mitlesebuch 117« (Aphaia Verlag, Berlin/München 2018), sein aktueller Gedichtband »Die Elemente der See« und die umfangreiche Werkauswahl 19912021 »Das Gedächtnis des Wassers«.  2020 erhielt er den Internationalen Poesiepreis »Città del Galateo – Antonio de Ferrariis« in Rom, Italien. Seine Gedichte wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und Einzeltitel erschienen in Argentinien, im Irak, in Japan, Kolumbien, Portugal, Serbien, Schweden, Uruguay und Venezuela. Er ist Mitbegründer und Koordinator des »Babylon Festivals für Internationale Kulturen & Künste«, das seit 2012 jährlich in Babylon und Bagdad stattfindet. Mit seiner Frau Juana Burghardt überträgt er lateinamerikanische Lyrik, katalanische Poesie, lusophone Lyrik und spanische Poesie. Sie sind Herausgeber und Übersetzer der Werkreihe von Miquel Martí i Pol, aus der Pep Guardiola im Sommer 2015 im Literaturhaus München las, und seit Herbst 2014 der Stuttgarter Juarroz-Werkausgabe, dem wir das GEDICHT-Motto »Ein Gedicht rettet einen Tag« (Roberto Juarroz) verdanken. Im Frühjahr 2017 wurden beide für ihr jeweiliges poetisches Werk und ihr gemeinsames literarisches Engagement zwischen den Kulturen und Sprachen mit dem »Internationalen KATHAK-Literaturpreis« in der südasiatischen Metropole Dhaka, Bangladesch, und als Verlagsteam der Edition Delta mit dem »Deutschen Verlagspreis 2021« des Kulturstaatsministeriums, Berlin, ausgezeichnet. Tobias Burghardt war GEDICHT-Redakteur der ersten Stunde und organisierte immer wieder wunderbare Sonderteile mit lateinamerikanischer Poesie für unsere Zeitschrift DAS GEDICHT.
Alle bereits erschienenen Folgen von »Im babylonischen Süden der Lyrik« finden Sie hier.


 

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