Augustins Fundsachen, Folge 5: »Notizen der Hoffnung« (Aufbau-Verlag Berlin und Weimar, 1984) von Marie Luise Kaschnitz

Wo auch immer der Weltreisende in Sachen Poesie” sich gerade wieder herumtreiben mag: wenn Michael Augustin ein Buchantiquariat erspäht, dann kommt er daran nicht vorbei, ohne wenigstens in haikuhafter Kürze (aber viel lieber in balladenhafter Länge) die dort erhofften mit Lyrik gefüllten Regalmeter auf Überraschendes und Wohlfeiles zu inspizieren. Vom Glück des Findens handelt seine Kolumne, in der er seine liebsten lyrischen Trouvaillen aus Läden und Bücherschuppen, von Flohmarkttischen und Straßenrändern in loser Folge am 3. eines Monats vorstellt.

 

Als ich das Buch vor ein paar Wochen in Dessau aus dem Regal des Antiquariats Bücherwurm gezogen hatte und just die im Vorsatz mit Bleistift vermerkten 6 Euro dafür bezahlen wollte, drängte sich noch schnell ein dicker Mensch an mir vorbei, der in der Grabbelkiste draußen vorm Laden ein Landser-Heft gefunden hatte, nun hocherfreut seinen Obolus entrichtete und fröhlich wieder hinausstiefelte.

"Steht noch dahin" von Marie Luise Kaschnitz
Buchcover-Abbildung (Insel Verlag)

Was hätte  s i e  wohl zu derlei Lektüreansinnen und Literaturvorratsbeschaffung gesagt, „die Kaschnitz“, der als Tochter eines hohen preußischen Militärs nicht erst im Alter alles Militärische gehörig auf den Senkel ging. Marie Luise Kaschnitz, die von 1901 bis 1974 gelebt hat und deren Name heute kaum noch zu hören ist im ohrenbetäubend schreierischen Literaturbetrieb. Eine Frau, deren beste Gedichte in ihren Kurzprosabänden zu finden sind, wie ich mehr als einmal öffentlich behauptet habe und wozu ich auch heute noch stehe, besonders dann, wenn ich gerade mal wieder in ihrem schmalen, ganze 84 Druckseiten (inklusive Inhaltsverzeichnis) umfassenden Band Steht noch dahin geschmökert – oder besser: aus diesem kleinen Büchlein wie ein hungriger Kolibri Nektar geschlürft habe. 1970 im Insel Verlag erschienen, vor einem halben Jahrhundert. Messerscharfe Sätze über den damaligen Zustand der hiesigen vergangenheitsbeladenen Menschheit, niederschmetternd, aber doch nie ganz ohne ein Quäntchen Hoffnung auf einen letzten Resthauch von Empathie: …wer sagt, dass in dem undurchsichtigen Sack Zukunft nicht auch ein Entzücken steckt. Das ist der letzte Satz des Buches … was für eine Wucht steckt darin!

Doch ich wollte ja eigentlich von dem Buch berichten, für das ich in Dessau 6 Euro bezahlt habe: Notizen der Hoffnung – Ausgewählte Gedichte – 1.Auflage 1984, Aufbau-Verlag Berlin und Weimar, Lizenzausgabe für die sozialistischen Länder mit freundlicher Genehmigung des Claassen Verlages Düsseldorf und des Insel Verlages Frankfurt a.M. – Printed in the German Democratic Republic. Es hat gedauert, leider bis in die Zeit nach ihrem Tod, dass ihre und meine Landsleute Ost sie gedruckt vor die Nasen bekamen, die von ihrem DDR-Kollegen, dem wunderbaren Poeten Heinz Czechowski, ausgewählten und mit einem umfassenden Nachwort versehenen Gedichte aus der Zeit zwischen 1947 und 1972. Eines davon, mit dem Titel Hiroshima aus dem Band Neue Gedichte von 1957, sollte, nein, müßte in jedem Schulbuch zu lesen sein, in meinen stand es nicht, wir haben es nicht gelesen in der Schule. Eindringlich auch ihre zahlreichen poetologischen Gedichte, keine Nabelschau oder Werkstattplauderei, vielmehr geht es um den nie nachlassenden Zweifel am eigenen Wortwerk, die Frage, ob es hinreicht, die Welt mit Wörtern und Worten in Schach zu halten (So viele Wortköder / Fette Bissen / Hab ich ausgeworfen / … / Aber mit Fischen / Und Schwerhörigen / Ist schlecht reden).

"Das dicke Kind" von Marie Luise Kaschnitz in der Autorenlesung
CD-Cover-Abbildung (der hörverlag)

Einige dieser Gedichte, darunter meine liebsten Kaschnitz-Wortköder, sind übrigens auf einer Doppel-CD des Hörverlags zu erleben, die sich bestimmt, wie ihre Bücher, auch noch in dem einen oder anderen Buchantiquariat finden ließe … vielleicht sogar für’n Appel und ‘n Ei? Neben den Gedichten gibt’s darauf auch Prosa zu hören und ein Werkstattgespräch mit dem Romancier, Lyriker und Rundfunkmann Horst Bienek!!! Man sollte auf jeden Fall die Gelegenheit wahrnehmen, ihrer Stimme zu lauschen, was sich auch kostenfrei machen lässt per Mausklick über lyrikline.org, wo sie mit 5 Gedichten zu hören ist, klar und deutlich artikulierend, mit einer gewissen ihr eigenen Strenge, unvergesslich auf jeden Fall und nicht zuletzt hilfreich bei der eigenen Lektüre im stillen Kämmerlein … ein Anreiz vielleicht, die Gedichte einmal laut zu lesen und sich dabei vom Fahrwasser ihres Sounds mitreißen zu lassen. Ich habe es eben gerade wieder getan und mir zwei dieser Gedichte angehört, die auch Heinz Czechowski überzeugt haben müssen seinerzeit, als er die Auswahl traf für meine Dessauer antiquarische Neuerwerbung: Herbst im Breisgau und das Dichterlebenbilanzgedicht Nicht gesagt. Zwei von den Gedichten, die sich durchaus messen können mit der grandiosen „kleinen Prosa“ dieser großen Dichterin. Das gebe ich gern zu!

"Notizen der Hoffung" von Marie Luise Kaschnitz
Buchcover-Abbildung (Aufbau-Verlag Berlin und Weimar)

 

 

 

 

 

 

 

 

Marie Luise Kaschnitz
Notizen der Hoffnung
Ausgewählte Gedichte
Aufbau-Verlag Berlin und Weimar, 1984

 

 

 

 

Porträt Michael Augustin von Jenny Augustin
(Bild: Jenny Augustin)

 

Der gebürtige Lübecker Michael Augustin hat in Dublin, in Kiel, auf Vancouver Island und in Carlisle, Pennsylvania, gelebt. Bei Radio Bremen hat er als Kulturredakteur ungezählte Literatursendungen über den Äther geschickt und war Leiter des internationalen Literaturfestivals „Poetry on the Road”.
Seit 2019 widmet er sich vorrangig seiner eigenen literarischen und künstlerischen Arbeit.

 

Ein Kommentar

  1. Lieber Michael,

    wieder einmal eine wunderbare “Fundsachen”-Folge. Danke dafür! Zu Deiner Forderung, dass Kaschnitz’sche “Hiroshima” zur allgemeinen Schullektüre zu machen: Ich unterstreiche und unterstütz sie – und kann zugleich kundtun, dass ich für meinen Teil es tatsächlich bereits in der Schule kennengelernt habe. Nicht über unsre Schulbücher (die waren damals praktisch nicht zu gebrauchen und wurden entsprechend wenig genutzt), sondern über ausgeteilte Kopien. Doch das Medium ist ja (anders als Marshall McLuhan postuliert hat) nicht die Message. Und insofern ist das nicht so wichtig. Wichtig ist: Dieses Gedicht hat uns erreicht, und seine politischen, ästhetischen, grundlegend menschlichen Botschafen wurden durchgesprochen und übermittelt.
    Es war übrigens einer jener raren Texte, die wirklich viele der Schülerinnen und Schüler erreicht haben, so mein Eindruck. Das bekräftigt weiter: Ja, er soll in die Schulbücher.

    Allerbeste Grüße und ein kräftiges Ahoi sowie ein schallendes Servus quer durch die Republik
    Eike

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