Auszeichnungen, Institutionen, Konferenzen, Lesungen, Poesie im Feuilleton und Lyrik-Neuerscheinungen: Nicola Bardola kommentiert und präsentiert am 20. eines Monats Bemerkenswertes aus der Welt der Verse.
Manche Bücher sollten statt der vergänglichen Zeitungen und Zeitschriften auf Tischen gut sichtbar bleiben. Sie müssten überleben, mindestens wie die fossilen Knochen, mit denen man nach Georg Büchner Königen die Schädel einschlagen kann; überleben wie jene Versteinerungen, an die Jürgen Becker erinnert, Versteinerungen, die einst lebten – vor dem Verlust ihres Lebens –, Versteinerungen, die dank dieses Gedankens am Leben sind wie Worte, die gelesen werden; überleben wie die Toten Paul Celans, die knospen und blühen. Barbara Maria Kloos stellt entsprechend drei Motti Celans, Büchners und Beckers ihrem Band „Fossile Infanten“ voran, ein hinaufschmelzendes Gefäß für Zeichengestöber und Sprachdepots: Hier wird ans Meer geliefert, es wird bestochen mit Safranfäden oder schokoliert. Halb verweste Buchkadaver und lesbare Skelette werden visioniert. Besprochen wird der Band ganz fabelhaft nebenan von Hellmuth Opitz (Link, s.u.).
Ungenommen unter Fittichen
Gut sichtbar auf Tischen sollte auch „Aus Mangel an Beweisen“ sein, eine Anthologie mit Texten von 180 AutorInnen, davon rund 120 eher männliche Dichter. Die LeserInnen werden hineingestoßen wie in einen übergroßen Honigtopf: Es fehlt ein Vorwort. Kein Inhaltsverzeichnis verleiht vorab Orientierung. Ungeschützt beginnt die Lektüre von Teil 1, genannt „Ich könnte Berserker sein“. Der Autorin Monika Rinck verdanken wir den Text „Honighohn“ aus ihren Honigprotokollen: Klebrigkeiten, Barock und Pollen, so als wollten die Herausgeber ihre Leser schon mit dem ersten Poem zum süßen Bleiben verleiten: Sticky Lyrics. Es fehlen Daten, Hinweise zur Ordnung, aber die ergibt sich intuitiv, denn nicht nur noch berühmtere Bienen spielen sich auf in Selbstporträts, auch andere, die nicht ich, nicht Dichterin sind. So schlagen bald schwarze Fittiche und das „1-Sein“ wird verlernt, ungenommen. Blumen, Pollen, Entwurzelung öffnen sich zur Gegenwart, zur Tiefgarage, in der „Ticketfinger in der Luft“ schweben: „Ein Knirschen nur im Knorpelwerk der Flügel“. Und da kommt Rinck wieder und schließt ganz Rondo den Auftaktteil als mögliche Berserkerin ab. Nachdem der Blick schon zu „Tussis in Pastell“ gesprungen ist, so der Titel von Teil 2, blättere ich ganz nach hinten zum Inhaltsverzeichnis und zum letzten von sieben für dieses Buch geschriebenen Essays. Dort begründet der Herausgeber Michael Braun die Ahnungen.
Wud priför nottu
Das Vorbild dieser Anthologie sei wie in den zuvor veröffentlichten das Erzeugen beweglicher und erfinderischer Nachbarschaften, so Braun. Keine literarischen Schulen, keine Generationen treten gegeneinander an. Braun und Hans Thill interessieren sich für die einzelnen Gedichte und ihre korrespondierenden Motive, die sie mit anderen Poemen verbinden. Die Anthologie konfrontiert das Radikalste und das Konservativste, Avantgarde da, Formstrenge dort. Braun lässt sich von Peter Waterhouse beeinflussen, von seiner Ansicht, das Gedicht sei Übergang, das nicht in Endgültiges münde: Ungewissheiten statt Beweise, daher der Titel. Also blättere ich zurück, hinein in die Dichtung und finde wuchtige Verbitterung, wie die im Schreibmaschinen-Faksimile samt Korrekturen von Friederike Mayröcker und ihren Kolonnen der Worte, die Brandblasen, die Hautschichten an Pinzetten und die verschiedenartigen Tinten. Da bilden sich um Mayröcker herum Ameisenwege, Prozessionen von ihrer hauseigenen Kredenz, seitenübergreifende Wanderungen bis zur konzentrierten Stille in Ulrich Kochs Ameisenhaufen zu Teil 6: „Wud priför nottu“.
Ohne den Fugenstaben „T“
Einstige Lyrik-Konkurrenten wie Michael Krüger und Jürgen Theobaldy (geboren 1943 und 1944) sind hier vereint. Sensibel geblieben verdichten beide weiter ihre Beobachtungen, als wären die differierenden Auffassungen aus den 1970er Jahren vom Winde in die Gegenwart verweht worden: Der „Einbruch der Umgangssprache in die elitistischen lyrischen Gefilde“ (Krüger 1976) hat seine Mondstaubspuren hinterlassen. Dagmara Kraus treibt das Oben und Unten um. In ihrem Aufsatz „Zweidichten im Singual“ beschäftigt sie sich mit dem Übersetzen eines Gedichtes in eine Metapher. Die Vorlage bildet Inge Müllers rührender Text „Himmel und Hölle (Freunde 3)“. Dem Mädchen ist der Himmel des Paradiesspiels zu klein. Ein Junge malt ihr einen „Zweihimmel“ über das Kreideraster, für den sie mit drei Küssen bezahlt. Daraus und aus textgenetischen Fehlleistungen entwickelt Kraus von einem Hüpfkästchen zum anderen eine Bilderflut ohne den Fugenstaben „T“ im vergrößerten Firmament – und im Miteinanderdichten im Plual bis zum nächsten Regen.
Instabilitätsfixierung
Vom Zweihimmel zum Zweidichter ist es ein kleiner Hüpfer: Der Fotograf Dirk Skiba begann 2013 Poeten aufwändig schwarz-weiß (Schattierungen, Unschärfen, Graustufen) abzulichten, Künstler, die mangels kommerziellen Potenzials einem größeren Publikum unbekannt sind. Hundert sind im großformatigen Buch „Das Gedicht & sein Double“ zu bewundern, Porträts von außerordentlicher Präzision, begleitet von Gedichten, zwei Drittel davon bisher unveröffentlicht. Faszinierender noch als die Bildkunst Skibas ist sein Talent, seine Modelle zu lenken und zu positionieren. Hinzu kommt der Dialog, der zwischen der Sprache des Schöpfers und seinem Abbild im Auge des Betrachters und des Lesers ein Drittes ergibt: Multiple Konterfeis entstehen, die quecksilbrig der oft verstockten Lyrikszene ein seltsames Denkmal setzen. Wen wundert es, dass gleich mehrere der Linse den Rücken kehren: Zur Pose erstarrtes Gesicht als Gefahr erkannt. Fotoscheu. Seelenraub. Buchstabenklau.
Drei Küsse. Mindestens.
Aber da ist die Körperhaltung, der Hinterkopf, der Nacken, der Rücken, die Frisur. Die Abwesenheit des Kamms. Wer wen doubelt, wissen auch die Herausgeber nicht so genau. Lyrikmimikry. Lyrikkrücke. Gedichtnachbildung. Autorenspiegelung. Instabilitätsfixierung. Identitätskrustierung. Antlizfalsifikat. Textkopie. Kopfgeburt. Nancy Hünger denkt gründlich über Selbstdarstellung der Literaten und Privatismus nach, um schließlich „das ewige Rätsel Shakespeare zu nennen oder Ferrante, Pynchon & Co., die ex negativo das gleiche Spiel betreiben (müssen) und durch konsequenten Entzug der eigenen Persönlichkeit das allseitige Begehren künstlich befeuern.“ Aber da ist auch Dagmara Kraus wieder, Augen zusammengekniffen, misstrauisch in Skipas Apparat blinzelnd und daneben ihr „Klumpatsch“: „… ich hab mir den kumpf schier am eppich versengt und da nicht mehr wegzukönnen ist doch gar nicht so flimm.“ Wie würde ihr wallendes Haar über den Kästchen wehen. Drei Küsse. Mindestens. Der ausdrückliche Wunsch dieses opulenten Fotobildbandes: Mögen aus Bildbetrachtern Gedichtleser werden.
Barbara Maria Kloos
Fossile Infanten
Gedichte
Hardcover m. Schutzumschlag
216 Seiten, 22 Euro
ISBN 978-3-940691-85-9
poetenladen Verlag, 2017
Aus Mangel an Beweisen
Deutsche Lyrik 2008 – 2018
Herausgeber: Michael Braun, Hans Thill
Hardcover m. Lesebändchen
320 Seiten, 26,80 Euro
ISBN: 978-3-88423-601-7
Verlag Das Wunderhorn, 2018
Dirk Skiba
Das Gedicht & sein Double. Die zeitgenössische Lyrikszene im Portrait.
Hrsg. von Nancy Hünger und Helge Pfannenschmidt
Mit 100 Schwarz-Weiß-Portraitfotos von Dirk Skiba (Duoton-Druck) und einem Essay von Nancy Hünger
Hardcover m. Schutzumschlag
224 Seiten, 34,90 Euro
ISBN 978-3-942375-36-8
Edition Azur, 2018
Nicola Bardola, 1959 in Zürich geboren, veröffentlichte als Student an der Universität Bern erste Gedichte und schrieb 1984 an der Universität Zürich im Fach Germanistik seine Lizentiatsarbeit über Theorien moderner Lyrik (u. a. zu Nicolas Born, Rolf Dieter Brinkmann, Jürgen Theobaldy). Seither lebt er in München, wo er seine Kolumne »Lyrik Revue« zunächst für das Münchner BuchMagazin betreute und für die Süddeutsche Zeitung schrieb. Er veröffentlichte Gedichte in Zeitschriften und Anthologien, übersetzte Eugenio Montale ins Deutsche und war Mitbegründer der Initiative Junger Autoren (IJA).
Alle bereits erschienenen Folgen von »Lyrik-Revue« finden Sie hier.