Auszeichnungen, Institutionen, Konferenzen, Lesungen, Poesie im Feuilleton und Lyrik-Neuerscheinungen: Nicola Bardola kommentiert und präsentiert am 20. eines Monats Bemerkenswertes aus der Welt der Verse.
Die Struktur des Buches „poetry / film“: Zunächst ein langer mit Fotos illustrierter Aufsatz (ca. 25 Seiten) des Herausgebers Andreas Altenhoff (wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Kunsthochschule für Medien Köln (KHM) und Leiter des Projekts „poetry / film“) betitelt „Eine Korrespondenz zwischen den Künsten“.
Danach neun Gedichte und dazu Hinweise auf deren Verfilmungen, illustriert jeweils mit Film-Stills, dazu Texte der Regisseure und Texte der Dichter, die ihrerseits auf die Verfilmungen ihrer Gedichte reagieren (ca. 30 Seiten). Es folgt ein doppelseitiger Aufsatz von Thomas Baumeister (Drehbuchautor für Claude Chabrol, Head of Development bei Volker Schlöndorff im Studio Babelsberg, Professor für Drehbuch und Filmisches Erzählen an der KHM). Danach weitere neun Gedichte und dazu Hinweise auf deren Verfilmungen illustriert mit Film-Stills, Texte der Regisseure und Texte der Dichter, die wieder auf die Verfilmungen reagieren (ca. 35 Seiten). Dann die chronologisch geordneten Daten zum Projekt „poetry / film“ von 2014 bis 2019 auf einer Doppelseite. Nachfolgend die Biografien aller Mitwirkenden, eine Danksagung, eine Seite mit Links zu den Filmen auf Vimeo inklusive Passwort und schließlich eine Nachbemerkung, die schmerzt, denn nun wird klar: Das Projekt „poetry / film“ wird mit diesem von der Kunststiftung NRW geförderten Projekt und mit diesem Buch zwar fortgeführt, aber gleichzeitig auch abgeschlossen.
Poetronica
Es fällt schwer, einzelne Gedichte und deren Verfilmungen (manche Texte wurden von verschiedenen Regisseuren zweifach verfilmt) herauszuheben: Eine enorme Bandbreite und eine grenzenlose Experimentierfreude zeichnen die 18 Texte und ihre 22 Filme aus. Die meisten Filmemacher nehmen sich absichtsvoll künstlerische Freiheiten, nehmen viel Abstand, entfernen sich sehr weit von den Gedichten und wahren so ihre Autonomie. Filmische Poesie wird daraus, die es zu lesen und zu interpretieren gilt wie die Werke der Lyriker. Letztere reagieren in ihren „Resonanzen“ oft ebenso unabhängig von den gesehenen Filmen, manchmal kommentieren sie sie auch direkt. Die Lyrikerinnen und Lyriker sind Kathrin Bach, Dominik Dombrowski, Marius Hulpe, Adrian Kasnitz, Sina Klein, Marie T. Martin, Simone Schabert, Bastian Schneider, Julia Trompeter und Christoph Wenzel. Ihre Resonanzen schwanken zwischen Begeisterung für die filmischen Umsetzungen und manchmal auch Irritationen bei groben Verstößen gegen Texttreue.
Im einleitenden Essay zitiert Andreas Altenhoff mehrfach Rolf Dieter Brinkmann, der seinerseits bereits 1969 in „Acid“ über den „Film in Worten“ nachdenkt: „… ein Film, also Bilder – also Vorstellungen, nicht die Reproduktion abstrakter, bilderloser syntaktischer Muster … Bilder, flickernd und voller Sprünge“. Fast ebenso flickernd und sprunghaft analysiert Altenhoff das Verhältnis zwischen Film und Lyrik. Gleichzeitig bietet er einen Überblick über die Entwicklung der Gattung „Poesiefilm“. Der Stammbaum ist noch nicht festgeschrieben, die Begriffe – meist aus dem englischen Sprachraum – stehen in Konkurrenz zueinander, manchmal ergänzen sie sich: Gedichtverfilmung, Lyrikclip, Lyrikfilm, Telepoesie, digitale Poesie, intermediale Poesie, visuelle Poesie, Poetry Clip, Poetry Video, Poem Video, Videopoem, Cine Poetry, Videohaiku, Visible Verse, New Media Poetry. Die Nomenklatur ist offen, die Gattungsgrenzen sind fließend, die Zahl der Bezeichnungen nimmt zu, auch auf die Urheber und die experimentierenden Events bezogen: E-Poet, Cyber-Poet, Click-Poet, Poetronica.
Das Schrauben der Glühbirne
Die Filmemacher, zum Zeitpunkt der Entstehung ihrer Filme zwischen 2014 und 2019 allesamt Studenten an der KHM, sind meist noch jünger als die jungen Dichter, deren Werke u.a. im Reader „Junge Lyriker*innen aus NRW“ erschienen sind. Den Nachwuchsregisseuren wurden keine ästhetischen oder thematischen Vorgaben gemacht, die Gedichte jedoch intensiv vorab studiert und deren filmische Umsetzung gedanklich geprobt. Nur ein formaler Aspekt musste beachtet werden: Sollte das Gedicht im Film nicht intradiegetisch erscheinen, muss es auf einer Texttafel gezeigt werden. Simone Scharbert hat 2017 das Gedicht „Frequenz“ in ihrem Band „Erzähl mir vom Atmen“ (Lese-Zeichen, Reihe „Raniser Debüt“) veröffentlicht.
Ein Jahr später erscheinen die Verfilmungen von Semith Korhan Güner „Leuchtkörper“ und von Lisa Domin „Sonne auf Erden“, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Scharbert schreibt vom metallischen Geräusch beim Schrauben einer Glühbirne, von der Unterschiedslosigkeit zwischen Tag und Nacht, vom unveränderten Pegel, vom Wunsch höher oder tiefer auf den Wellen zu schwimmen und letztlich: „… leuchtkörper werden für einen moment nur mittel zum zweck sein.“ Güner filmt eine schwangere Frau an einem Sommertag am See.
Der Kontrast der plätschernden Wellen in freier Natur zum Geräusch beim Glühbirnenschrauben fasziniert. Das Geräusch des Glühbirnenschraubens bleibt unhörbar, wird aber aus dem Off gelesen, ist also in der Vorstellung vorhanden. Die beiden Leben, die schwangere Frau mit dem ungeborenen Kind leuchten in der Sonne über und unter dem Wasser. Zehn Minuten lang öffnet der Film eine Fülle an Assoziationen in Kombination mit dem Gedicht. Es herrschen Ruhe und Meditation im Film. Die werdende Mutter als Mittel zum Zweck der Geburt bildet dabei nur eine Oberfläche wie die nackte und nasse Haut der Schauspielerin, die sich reglos als „tote Frau“ treiben lässt, später bei sich entsprechend ändernder Geräuschkulisse hinab taucht und ihren neuen Körper, ihren werdenden Menschen erforscht.
Ein Modell für Literatur- und Filmfestivals
Ganz anders Lisa Domins filmische Annäherung, die sie „einen kleinen Science-Fiction“ nennt, der die Motive in häuslicher Umgebung aufnimmt, Lichtmotive: ein Blinken ohne Ursache, eine Lichtdusche, Stromquellen, ein Ventilator, Gartenmöbel und ein Kind, das sich in dieser Umgebung bewegt und das gegen Ende auf dem Rücken liegend, mit dem Blick hinauf zur Kamera gewandt, das Gedicht in seltsamem Gleichmaß vorträgt. Simone Scharberts Resonanz darauf wirkt wie eine wunderbare Dankesrede an die beiden Filmschaffenden, ist aber weit darüber hinaus ein Zustandsbericht der Dichterin im Kinosaal angesichts der bewegten Bilder und Klänge, die aus ihrem Gedicht entstanden sind: „… das staunen, wohin die wellen führen, aus sich selbst, lesarten sichtbar werden, unerzähltes erzählen, einen selbst treffen …“. Die beiden Filme treiben die Dichterin voran, wecken Wünsche, allen voran die Sehnsucht beide Filme auf der Stelle mit ihren Kindern anzuschauen und mit ihnen darüber zu reden.
Möge das Projekt „poetry / film“ bald fortgesetzt werden, wenn nicht in NRW, dann in anderen Regionen. Vergleichbare, weiterhin bestehende und erfolgreiche Projekte: poetryfilmkanal und visible poetry project. Aber warum nur an Hochschulen? Warum nicht auch mit etablierten Künstlern? Warum nicht in Kooperation mit Filmfestivals und Literaturtagen? Vertreten in diesem Band sind folgende Filmer: Ronida Alsino, Quimu Casalprim, Florian Dedek, Marie-Claire Delarber, Lisa Domin, Michel Dulisch, Laura Engelhardt, Deren Ercenk, Stefani Glauber, Miriam Gossing, Semih Korhan Güner, Mo Jäger, Maren Kessler, Julia König, Svenja Kretschmer, Danila Lipatov, Leri Matehha, Hamed Mohammadi, Julian Pache, Hannah-Lisa Paul, Julian Pawelzik, Judith Röder, Bazon Rosengarth, Lia Sáile, Sophie Salzer, Luisa Stricker. „Um das Gegensatzpaar Poesie und Massenmedium dreht sich schließlich alles, wenn man von „Filmkunst“ spricht. Was also liegt für Filmemacher*innen näher, als sich anderen poetischen Formen zu stellen?“, schreibt Thomas Bauermeister. Wer die 18 Gedichte und ihre 22 Filme sehen will, muss das Buch kaufen.
«poetry/ film» – Gedichte – Filme – Resonanzen
Lilienfeld 2020. Schriftenreihe der Kunststiftung NRW Literatur, Band 14. edition KHM
Herausgegeben von Andreas Altenhoff und Sonja Hofmann
124 Seiten, zahlreiche farbige Abbildungen. Mit Links und Passwort zu den Filmen auf Vimeo.
Broschur, Fadenheftung, € 16,00
ISBN 978-3-940357-81-6
Nicola Bardola, 1959 in Zürich geboren, veröffentlichte als Student an der Universität Bern erste Gedichte und schrieb 1984 an der Universität Zürich im Fach Germanistik seine Lizentiatsarbeit über Theorien moderner Lyrik (u. a. zu Nicolas Born, Rolf Dieter Brinkmann, Jürgen Theobaldy). Seither lebt er in München, wo er seine Kolumne »Lyrik Revue« zunächst für das Münchner BuchMagazin betreute und für die Süddeutsche Zeitung schrieb. Er veröffentlichte Gedichte in Zeitschriften und Anthologien, übersetzte Eugenio Montale ins Deutsche und war Mitbegründer der Initiative Junger Autoren (IJA). Zuletzt erschien von ihm „Elena Ferrante – Meine geniale Autorin“ im Reclam Verlag.
Alle bereits erschienenen Folgen von »Lyrik-Revue« finden Sie hier.