Tobias Burghardt flaniert jeweils am 5. eines Monats auf DAS GEDICHT blog durch die südlichen Gefilde der Weltpoesie. In der Rubrik »Im babylonischen Süden der Lyrik« werden Sprachgemarkungen überschritten und aktuelle Räume der poetischen Peripherien, die innovative Mittelpunkte bilden, vorgestellt.
Der emiratische Dichter Adel Khozam hatte die glänzende Idee für das globale Lyrikprojekt »World Poetry Tree: An Anthology for Love, Hope, and Peace« zur diesjährigen Weltausstellung in Dubai. Die 1001 Seiten starke englischsprachige Anthologie mit 12 Zweigen zu jeweils 32 bis 35 Dichterinnen und Dichtern wurde vor wenigen Tagen im EXPO-Pavillon der Vereinigten Arabischen Emirate in Anwesenheit der emiratischen Ministerin für Kultur und Jugend, Noura Al Kaabi, vorgestellt. Die erste internationale Lesung daraus wird am 12. Februar 2022 in Al Habtoor City im Rahmen des zehntätigen »EmiratesLitFest« stattfinden. Zur EXPO 2025 Osaka soll dann die zweite Version der alle Kontinente übergeifenden Anthologie »World Poetry Tree« erscheinen.
Die einzelnen Kapitel-Zweige dieser Weltanthologie lauten: »Travelling Words« (ab S. 13), »Love Umbrellas« (ab S. 102), »Distant Shadows« (ab S. 200), »Light Songs« (ab S. 272), »Belonging to the Future« (ab S. 343), »Arriving Love« (ab S. 426), »Freedom’s Bird« (ab S. 508), »Time Discovers Itself« (an S. 587), »Truth in the Mirror« (ab S. 652), »Poem Wings« (ab S. 741), »Feeding Hope« (ab S. 825) und »Spring’s Sound« (ab S. 913).
Zu den mehr als 400 Dichterinnen und Dichtern aus über 100 Ländern aller Kontinente gehören u.a. Michael Rothenberg (USA), Inger-Mari Aikio (Sami, Finnland), Tuĝrul Tanyol (Türkei), Reshma Ramesh (Indien), Tendo Taijin (Japan), Amal Alsahlawi (VAE), Aminur Rahman (Bangladesch), Marlene Pasini (Mexiko), Ron Riddell (Neuseeland), Neşe Yaşın (Zypern), Fernando Rendón (Kolumbien), Conceição Lima (São Tomé e Príncipe), Álvaro Mata Guillé (Costa Rica), Biplab Majee (Indien) oder Les Wicks (Australien).
Auf den Seiten 882 bis 885 befinden sich drei Gedichte der sãotomensischen Poetin Conceição Lima, von denen hier eins mit Originaltext folgt.
Conceição Lima
AFROINSULARIDADE
Deixaram nas ilhas um legado
de híbridas palavras e tétricas plantações
engenhos enferrujados proas sem alento
nomes sonoros aristocráticos
e a lenda de um naufrágio nas Sete Pedras
Aqui aportaram vindos do Norte
por mandato ou acaso ao serviço do seu rei:
navegadores e piratas
negreiros ladrões contrabandistas
simples homens
rebeldes proscritos também
e infantes judeus
tão tenros que feneceram
como espigas queimadas
Nas naus trouxeram
bússolas quinquilharias sementes
plantas experimentais amarguras atrozes
um padrão de pedra pálido como o trigo
e outras cargas sem sonhos nem raízes
porque toda a ilha era um porto e uma estrada
sem regresso
todas as mãos eram negras forquilhas e enxadas
E nas roças ficaram pegadas vivas
como cicatrizes-cada cafeeiro respira agora um
escravo morto.
E nas ilhas ficaram
incisivas arrogantes estátuas nas esquinas
cento e tal igrejas e capelas
para mil quilómetros quadrados
e o inssurecto sincretismo dos paços natalícios.
E ficou a cadência palaciana da ússua
o aroma do alho e do zêtê d´óchi
no tempi e na ubaga téla
e no calulu o louro misturado ao óleo de palma
e o perfume do alecrim
e do mlajincón nos quintais dos luchans.
E aos relógios insulares se fundiram os
os espectros – ferramentas do império
numa estrutura de ambíguas claridades
e seculares condimentos
santos padroeiros e fortalezas derrubadas
vinhos baratos e auroras partilhadas
Às vezes penso em suas lívidas ossadas
seus cabelos podres na orla do mar
Aqui, neste fragmento de África
onde, virado para o Sul,
um verbo amanhece alto
como uma dolorosa bandeira.
Sete Pedras: rochas altas e aguçadas que rompem o mar em frente ao extremo sul da ilha de São Tomé. Segundo uma versão portuguesa sem confirmação, aí teria naufragado em 1550 um barco transportando escravos. Estes teriam logrado alcancar a costa dando origem ao povo Angolar.
Ússua (Crioulo forro): dança de salão da ilha de São Tomé, caracterizada por muitos requebros e mesuras, sobretudo do elemento masculino.
Zêtê d’óchi (Crioulo forro): azeite de oliveira.
Tempi (Crioulo lunguyê): panela tradicional de barro.
Ubaga téla (Crioulo forro): tradução literal: panela da terra. O mesmo que tempi.
Calulu (ou calilu) (Crioulo forro): prato típico da culinária da ilha de São Tomé, mais ou menos confeccionado como um guisado, à base de peixe defumado ou de carne, com muita hortaliça picada e óleo de palma, entre outros condimentos.
Mlajincon (Crioulo forro): manjerico.
Luchan (Luchã) (Crioulo forro): localidade de aglomerados dispersos; quintal grande de família; terreiro à volta do qual estão dispostas casas de pessoas ligadas por laços de consanguinidade.
Conceição Lima
AFROINSULANISCH
Sie hinterließen auf den Inseln ein Erbe
aus herkunftslosen Wörtern und finsteren Plantagen
eingerostete Zuckerrohrplantagen atemlose Buge
klangvolle Adelsnamen
und die Legende von einem Schiffbruch bei Sete Pedras
Hier landeten die Ankömmlinge von Norden
auf Befehl oder vielleicht im Dienst ihres Königs:
Seefahrer und Piraten
Sklavenhändler Diebe Schmuggler
einfache Männer
auch aufrührerische Verbannte
und jüdische Kinder
so zart dass sie wie
versengte Ähren starben
In den Schiffen führten sie
Kompasse Krimskrams Saatgut
Versuchspflanzen grässliche Bitternisse
ein steinernes Denkmal blass wie Weizen
und andere Ladungen ohne Träume noch Wurzeln
weil die ganze Insel ein Hafen war und eine Straße
ohne Rückkehr
alle Hände waren schwarze Forken und Hacken
Und auf den Feldern überlebten sie
wie Narben – jeder Kaffeebauer atmet jetzt einen
toten Sklaven.
Und auf den Inseln blieben
einschneidende und hochmutige Statuen an den Ecken
über hundert Kirchen und Kapellen
auf tausend Quadratkilometern
und der aufständische Synkretismus der Geburtspaläste.
Und da blieb ein höfischer Rhythmus vom Ússua
und der Duft nach Knoblauch und Zêtê d´óchi
in den Tontöpfen Tempi und Ubaga téla
und im Eintopf Calulu das Lorbeerblatt in Palmöl
und der Duft nach Rosmarin
und Mlajincon in den Gemüsegärten der Luchans
Und die Geister verschmelzen
mit den Inseluhren – Werkzeuge des Imperiums
in einem Gefüge zwielichtiger Klarheit
und weltlicher Gewürze
Schutzheiliger und zerfallener Festungen
billiger Weine und zerstückelter Sonnenaufgänge
Manchmal denke ich an ihre blassen Gebeine
ihre Haare die am Meeressaum verwest sind
bei diesem Stück Afrika hier
wo ein südwärts gerichtetes
Wort hoch oben
wie eine schmerzvolle Fahne graut.
Sete Pedras: hohe und spitze Felsen, die am Südende der Insel São Tomé als Wellenbrecher dienen. Eine unbestätigte portugiesische Erzählung besagt, daß 1550 ein Schiff mit Sklaven sank. Sie konnten die Küste erreichen und gründeten die Siedlung Angolar.
Ússua (Forro-Kreolisch): traditioneller Salontanz auf der Insel São Tomé, bei dem sich vor allem der männliche Part besonders verrenken und verbeugen muss.
Zêtê d’óchi (Forro-Kreolisch): Olivenöl.
Tempi (Lunguyê-Kreolisch) traditioneller Tontopf.
Ubaga téla (Forro-Kreolisch): wortwörtliche Übersetzung: Tontopf – wie Tempi.
Calulu (oder Calilu) (Forro-Kreolisch): typisches Gericht aus der Küche der Insel São Tomé, das wie ein Eintopf mit geräuchertem Fisch oder Fleisch, sehr viel kleingeschnittenem Gemüse, Palmöl und anderen Gewürzen zubereitet wird.
Übertragen von Juana & Tobias Burghardt
© Conceição Lima
Die Gedichte der sãotomensischen Poetin Conceição Lima wurden in Portugal als »ein Ereignis von seltener Bedeutsamkeit in der aktuellen portugiesischsprachigen Poesie« (Helder Macedo) gewürdigt. Der afrikanische Blickwinkel ihrer Poesie weitet und vertieft gleichsam den Begriff der »Insel« ins Universelle und verleiht somit der insularen Afrikanität eine universelle Dimension.
Das bisher veröffentlichte Lyrikschaffen von Conceição Lima liegt hierzulande in zwei zweisprachigen Doppelbänden vollständig übersetzt ins Deutsche vor und bildet einen Beitrag zur diesjährigen Frühjahrsbuchmesse »Leipzig-Portugal 2022«, siehe auch »Im babylonischen Süden der Lyrik« Folge 65.
»O País de Akendenguê & Quando Florirem Salambás no Tecto do Pico – Das Land von Akendengué & Wenn Samt-Tamarinden auf dem Dach des Gipfels blühen« (Gedichte, zweisprachig: Portugiesisch-Deutsch) von Conceição Lima bei Edition Delta
»O Útero da Casa & A Dolorosa Raiz do Micondó – Die Gebärmutter des Hauses & Die schmerzvolle Wurzel des Affenbrotbaums« (Gedichte, zweisprachig: Portugiesisch-Deutsch) von Conceição Lima bei Edition Delta
Tobias Burghardt (Jahrgang 1961) ist Lyriker, Übersetzer und Verleger der Stuttgarter Edition Delta (www.edition-delta.de). Er veröffentlichte mehrere Lyrikbände, darunter seine Fluss-Trilogie sowie »Septembererde & August-Alphabet«. Zuletzt erschien seine Werkauswahl »Mitlesebuch 117« (Aphaia Verlag, Berlin/München 2018) und sein aktueller Gedichtband »Die Elemente der See«. 2020 erhielt er den Internationalen Poesiepreis »Città del Galateo – Antonio de Ferrariis« in Rom, Italien. Seine Gedichte wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und Einzeltitel erschienen in Argentinien, im Irak, in Japan, Kolumbien, Portugal, Serbien, Schweden, Uruguay und Venezuela. Er ist Mitbegründer und Koordinator des »Babylon Festivals für Internationale Kulturen & Künste«, das seit 2012 jährlich in Babylon und Bagdad stattfindet. Mit seiner Frau Juana Burghardt überträgt er lateinamerikanische Lyrik, katalanische Poesie, lusophone Lyrik und spanische Poesie. Sie sind Herausgeber und Übersetzer der Werkreihe von Miquel Martí i Pol, aus der Pep Guardiola im Sommer 2015 im Literaturhaus München las, und seit Herbst 2014 der Stuttgarter Juarroz-Werkausgabe, dem wir das GEDICHT-Motto »Ein Gedicht rettet einen Tag« (Roberto Juarroz) verdanken. Im Frühjahr 2017 wurden beide für ihr jeweiliges poetisches Werk und ihr gemeinsames literarisches Engagement zwischen den Kulturen und Sprachen mit dem »Internationalen KATHAK-Literaturpreis« in der südasiatischen Metropole Dhaka, Bangladesch, und als Verlagsteam der Edition Delta mit dem »Deutschen Verlagspreis 2021« des Kulturstaatsministeriums, Berlin, ausgezeichnet. Tobias Burghardt war GEDICHT-Redakteur der ersten Stunde und organisierte immer wieder wunderbare Sonderteile mit lateinamerikanischer Poesie für unsere Zeitschrift DAS GEDICHT.
Alle bereits erschienenen Folgen von »Im babylonischen Süden der Lyrik« finden Sie hier.
Tobias-san
Vielen Dank für die Einführung.
Sie haben eine gute Anthologie von verbindenden Welten geschaffen.
Ich hoffe, dir und Jona-san geht es gut.
Pass auf dich auf und lebe es aus.
Meine Kunst-Performance, Projet La Voix des Poètes, feiert am 8. Februar ihre 2050ste Ausgabe.
Ich freue mich auf ein Wiedersehen mit Ihnen.
Bitte richten Sie Jona-san meine besten Wünsche aus.
In Liebe und Freundschaft!